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«Indymedia: Ein Netzwerk der Gegenöffentlichkeit»

Kommentar zur Präsentation von <italia.indymedia.org>
anlässlich der 8. Salongespräche «pilgern und surfen»
zum Thema «Erfahrungen von Kulturservern»
in Romainmôtier (CH), 17.-20. Oktober 2002

 

Christoph MÜLLER,
Institut für Soziologie
Universität Bern, Schweiz

 

Einleitend

Indymedia.org ist ein mittlerweile (2002) achtzig Knoten umfassendes Netzwerk von «unabhängigen Medienzentren» (independent media centers). Einige davon befinden sich in Italien (in Milano, Napoli, Perugia, Sicilia...), gruppiert unter dem Label und unter der Webadresse italia.indymedia.org. Ein weiterer Knoten befindet sich in der Schweiz ( switzerland.indymedia.org).

Trotz des gemeinsamen Daches und der gleichen formalen und technischen Struktur unterscheiden sich die 80 verschiedenen Knoten in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, da sie in unterschiedlicher Weise in die jeweiligen lokalen, regionalen oder nationalen Strukturen sozialer Bewegungen eingebettet sind.

Das erste «Indymedia» wurde 1999 von verschiedenen unabhängigen Medienschaffenden anlässlich der Proteste gegen das Treffen der WTO in den Seattle (USA) gegründet. Die Absicht bestand darin, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und die Proteste gegen das WTO-Treffen weiter zu verbreiten (sh. indymedia.org/about.php3).

Der doppelte Anspruch von Indymedia besteht darin, (a) eine Plattform für unabhängige Informationen "von unten" anzubieten, und (b) soziale Bewegungen (international) zu vernetzen.

In technischer Hinsicht basieren die Websites der Indymedia-Knoten auf eine Vorlage von slashdot.org (welche ihrerseits ein Ergebnis der «open source community» in den USA darstellt; ein ähnliches, kleineres Projekt in der Schweiz aus dem Umfeld von open-source-AnhängerInnen ist symlink). Die Server von Indymedia befinden sich physisch in den USA (u.a. wegen dem dort stärker verankerten Recht auf freie Meinungsäusserung).

Die Struktur der Websites orientiert sich zweidimensional an Projekten (Kampagnen, Themenschwerpunkte wie «Techniken der Desinformation» oder «Klimawandel») und an Orten (nationale, regionale und lokale Knoten). Die Publikationsformen sind auf Multimedialität ausgerichtet: Neben Texten und Photos finden sich auch Audio- und Video-Streams.

Auf allen Webseiten stehen «feedback-Kanäle» offen, so dass die Lesenden jeweils eigene Kommentare anfügen können, welche wiederum publiziert werden.

 

Das Beispiel italia.indymedia.org

 

Der zweite Anspruch: Vernetzung

Zunächst zum zweiten Anspruch, der Vernetzung: Innerhalb des gesamten Indymedia-Netzwerks funktioniert die Vernetzung auf drei Ebenen: Auf allen drei Ebenen wirken die Indymedia-Kampagnen sowohl gegen aussen (im klassischen Sinne von «Glocken», campagne, oder moderner: von Megaphonen), wie auch gegen innen, zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls.

Einige Aktionen beschränken sich auf den online-Bereich (auf das Internet), wie etwa Netstrikes oder DDoS-Attacken (Denial of Service) gegen multinationale Konzerne. Andere Aktionen fokussieren offline-Treffpunkte, wie Demos oder ähnliche Protestaktionen. Immer wieder finden sich auf den Webseiten von italia.indymedia.org Hinweise auf offline-Treffen, besonders prominent zur Zeit die eigene «Assemblea Nazionale» vom 11.-13. Okober 2002 in Firenze, sowie auf ideologisch nahestehende Printmedien.

italia.indymedia.org scheint somit keineswegs «aus allen Zusammenhängen heraus» zu agieren, sondern wirkt gut eingebettet in soziale Beziehungen. Besonders wertvoll für diese Einbettung und für die Vernetzung von «online» und «offline» sind die italienischen «Centri Sociali», für die es in der Schweiz keine Entsprechung gibt. (Es handelt sich in etwa um Mischungen aus Quartiertreffpunkten, Gemeinschaftszentren und alternativen Kulturorten, meist mit sozial gemischter Teilnehmerschaft. -- Gerade am Tag unserer Diskussion zu «Kulturservern» wird das einzige Tessiner «Centro Sociale Autonomo Il Molino» bei Lugano polizeilich geräumt -- Indymedia berichtet beinahe zeitgleich über die Schliessung und ruft zu Protestaktionen auf.)

Insgesamt kommen indymedia.org und italia.indymedia.org eine sehr wichtige Bedeutung für politisch-kulturelle und für kulturell-politische sozialen Bewegungen zu. Ich versuche dies nachfolgend mit einer Rückbindung an den Anspruch der Vernetzung zu erläutern. Dabei gehe ich auf drei elementare Voraussetzungen für ein Gelingen sozialer Bewegungen ein:

(1) Ideologische Ausrichtung

Die ideologische Ausrichtung (oder: Bündelung, «frame alignment») erfolgt mit Kampagnen, bei denen Kritik begründet und «auf einen Punkt gebracht» wird. Die Aussagen werden in Slogans und in Parolen gefasst, die «alle» verstehen sollten. Dies gilt auch für Slogans über das Medium selber, etwa wenn italia.indymedia.org sich selber mit kühnem Selbstbewusstsein als «the italian media revolution» bezeichnet (-- und dies im Zeitalter von Berlusconis Monopolisierung der italienischen Medienlandschaft!). Wichtig für die ideologische Bündelung sind neben den Slogans die Schlagzeilen der eigentlichen Mitteilungen auf der Website, der Newsletter und fokussierte offline-Anlässe.

(2) Partizipationsmöglickeiten

Ein Hauptslogan bei italia.indymedia.org lautet «Join the italian media revolution!» Indymedia bietet Möglichkeiten zu online-Beteiligungen, indem konsequent auf jeder Internetseite ein Link steht, über den die Leserschaft einen Kommentar beifügen kann, der wiederum publiziert wird. Werden diese Feedback-Möglichkeiten wahrgenommen, so entsteht eine eigentliche Diskussionsplattform (-- dies in deutlichem Kontrast etwa zu leninistisch oder stalinistisch strukturierten sozialen Bewegungen!). Darüber hinaus bietet Indymedia Möglichkeiten für offline-Beteiligungen, so an Demonstrationen, in den lokalen Strukturen der «Centri Sociali», oder an der eigenen Assemblea Nazionale.

(3) Ein Gedächtnis (memoria, Archiv)

Ein gutes Beispiel für die grosse Bedeutung eines Archivs für eine soziale Bewegung ist die soeben gehörte Einspielung von «radioalice» 1977, bei der die polizeiliche Schliessung online über den Sender ausgestrahlt wurde. Sind solche Kernmomente in einem Gedächtnis festgehalten und werden sie zugänglich gemacht, so können sie auch Jahre später noch politisierend und mobilisierend wirken.
Weitere Aspekte eines kollektiven Gedächtnisses sind Feste und Feiern, die Zelebration von «Geburtstagen» und anderer wichtiger Momente der Erinnerung, so auch Erinnerungen an die Tötung von Carlo Giuliani in Genova 2001.
Schliesslich werden bei italia.indymedia.org auch eigentliche Gründungslegenden gepflegt, etwa wenn es in der Chronologie nach der Gründung von Indymedia pathetisch heisst: «Nulla è stato più come prima» («nichts war mehr wie zuvor» -- dies erinnert allerdings etwas unangenehm an ideologische Aussagen nach dem Angriff auf das WTC in New York vom 11. September 2001...)

 

Der erste Anspruch: Gegenöffentlichkeit schaffen

Der Slogan zum ersten, «medienaktivistischen» Anspruch von Indymedia lautet: «Tu sei il tuo media!» Indymedia will eine Plattform für Meinungen «von unten» anbieten, ähnlich wie dies einige Zeitschriften versuchten (in der Schweiz etwa die «LeserZeitung»), wie es einige Lokalradios immer noch tun (neben vielen anderen etwa Radio LoRa in Zürich und Radio RaBe in Bern), und wie es die nicht moderierten Newsgruppen des USENET als Teil des Internet ermöglichen. Angesichts der zunehmenden inhaltlichen und formalen Gleichschaltung von Massenmedien und der ungeheuerlichen Monopolisierung von Fernsehsendern unter Berlusconis Imperium ist eine solche Gegenbewegung gerade in Italien enorm wichtig!

Bei all dem erscheint mir allerdings das Credo des «Open publishing» beim Plattform-Konzept von Indymedia problematisch. Bei Indymedia gibt es keine namentlich bekannte Herausgeberschaft und keine eigentliche Redaktion, die für den Inhalt der Webseiten geradestehen würde. Für einen Teil der Publikationen ist ein «staff» zuständig, der sich an eine veröffentlichte Editorial-Politik hält. In der ausführlichen, fünfzig Punkte umfassenden FAQ (Frequently Asked Questions) ist festgehalten, dass der «staff» sich dabei u.a. am Kriterium «Transparenz» ausrichtet.

Demgegenüber stehen andere Teile der Website allen Menschen zur Publikation frei. Ihre Beiträge werden direkt veröffentlicht, ohne vorher einen redaktionellen Filter zu durchlaufen. Unpassende Beiträge werden allenfalls im Nachhinein gelöscht bzw. in einen speziellen «Papierkorb» transferiert. Im Gegensatz etwa zu LeserInnenseiten in Printmedien ist dieses «Jekami» (so ras in der NZZ vom 1. März 2002) nicht deutlich vom redaktionell betreuten Teil abgetrennt.

In beiden Teilen der Publikation treten die meisten Schreibenden unter einem Pseudonym auf. Dabei zeigen sich zwei Schwachpunkte im Konzept von Indymedia:

(a) Grenzziehung: Wer gehört dazu, wer nicht?

Wer darf bei der gemeinsamen Plattform mitmachen? Wer gehört zur «sozialen Bewegung» und wer wird ausgeschlossen? Was ist erlaubt, was nicht?

Beispiel (1)

Im Oktober 2001 werfen «einige von Indymedia» einer zentralen Figur von russia.indymedia.org eine ideologische und organisatorische Nähe zu neofaschistischen Gruppierungen vor (-- übrigens ebenfalls «soziale Bewegungen»!). Sie fordern dessen Ausschluss bzw. die Sperrung der Website durch die «Mutter» ( indymedia.org).

Beispiel (2)

Am 16. November 2001 wurde unter switzerland.indymedia.org ein Cartoon von «Latuff» publiziert. Eine Gruppe mit dem Pseudonym F.E.P.A. («Für einen progressiven Antikapitalismus») kritisierte den Cartoon als rassistisch (antisemitisch) und forderte dessen Entfernung. Nach wiederholter Kritik dieser Gruppe, die Indymedia-Schweiz nahe steht, wurde der Cartoon in den sogenannten «Zensurkübel» verschoben. F.E.P.A. forderte aber die vollständige Entfernung dieses und anderer als antisemitisch kritiserten Beitrages. Im Anschluss an diese Auseinandersetzung reichte der Verein «Aktion Kinder des Holocaust» (AKDH) eine Strafanzeige gegen die Herausgeberschaft ein.
Das Strafverfahren wurde zwar im August 2002 aufgrund einer aussergerichtlichen Einigung eingestellt, doch die Turbulenzen führten dazu, dass switzerland.indymedia.org den Betrieb zeitweilig einstellte. Es wurde ein Klärungsbedarf festgestellt: Was soll unter dem Konzept von «open publishing» publiziert werden dürfen? In welcher Form sollen beispielsweise die israelischen Militärangriffe auf Palästina kritisiert werden dürfen? Wer soll das Recht haben, Beiträge anderer zu zensieren?
Zum heutigen Zeitpunkt (November 2002) befindet sich die Website permanent «under construction».

(b) Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, auch "Qualität"!

Weil sowohl die einzelnen AutorInnen als auch die Herausgeberschaft (Redaktion, staff) bei Indymedia meist unter Pseudonymen auftreten, stellt sich die Frage nach der Zurechenbarkeit, und damit nach der Vertrauenswürdigkeit und nach der Zuverlässigkeit der angebotenen Informationen. Im Gegensatz zu den veröffentlichten Ansprüchen zur Editorial-Politik fehlt eine Transparenz und es ist oft nicht nachprüfbar, woher die Informationen stammen.

Stattdessen öffnet sich mit der Anonymität und Pseudonymität ein weites Feld für Anschuldigungen aller Art, für Intrigen, Diffamierungen, Gerüchte, Konspirationen und Verschwörungen, etwa wenn - wie oben erwähnt - «einige von Indymedia» dem russischen Menschen Nähe zu Neonazis vorwerfen - was stimmen mag, oder auch nicht.
Ähnlich auch bei den Auseinandersetzungen um den als «rassistisch» bezeichneten Cartoon bei switzerland.indymedia.org: Die Debatte und die Verhandlungen wurden hinter verschlossenen Türen geführt. Der eigene Anspruch auf «Transparenz» kann offensichtlich nicht immer eingehalten werden.

(Selbstverständlich gibt es bisweilen gute Gründe dafür, in Publikationen anonym oder pseudonym aufzutreten! Wir alle wissen aus mehr oder weniger selber erlebter Erfahrung, dass es Zeiten und Orte gibt, in denen dies sogar überlebenswichtig ist! Ich bin allerdings der Überzeugung, dass -- in den allermeisten Fällen -- im Jahr 2002 weder die Schweiz noch Italien noch Deutschland zu solchen Orten gehören.)

Bei aller Kritik am Indymedia-Konzept des «Open Publishing»: Es ist dem Projekt sehr hoch anzurechnen, dass hier ein Prozess in Gang gesetzt und verfolgt wird, der wichtige Fragen überhaupt erst in eine Diskussion bringt! -- Fragen, die in den meisten anderen Medien gar nicht erst gestellt werden.

In diesem Sinne ist das Projekt Indymedia mit seinen verschiedenen Facetten als ein *Prozess* zu betrachten, von dem alle sehr vieles lernen können!

 

Zusammenfassend: positive, ambivalente und negative Punkte

+++   Vernetzung von sozialen Bewegungen auf mehreren Ebenen

+++   Gegenöffentlichkeit: Plattform für Informationen "von unten",

naja   Multimedialität (wegen den eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten),

naja   Seltsam, dass Indymedia auf ihren Seiten ein «Copyright» beansprucht!

----   Problematisches Konzept des "Open Publishing".

 


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