Vortrag anlässlich der Herbsttagung 2000
der Schweizerischen Akademie der Sozial- und Geisteswissenschaften (SAGW)
zum Thema «Das Internet - Potential und Grenzen aus sozialwissenschaftliche Sicht»
vom 9. November 2000 in Bern
erschienen in der SAGW-Publikation zur Tagung (Eigenverlag)
Christoph MÜLLER,
Institut für Soziologie
Universität Bern, Schweiz
"Virtuelle Gemeinschaften" ist inzwischen zu einem ähnlich überladenen Begriff geworden wie "das Internet" insgesamt mit all seinen E's und @'s. Doch inwiefern ist es sinnvoll, Kommunikationsdienste des Internet als "virtual communities" zu bezeichnen? Stellen Chats oder Newsgruppen wirklich Gemeinschaften dar, welche "traditionelle" Formen der Vergemeinschaftung ergänzen oder gar ersetzen?
Neben den Nutzungsgewohnheiten und der soziodemografischen Zusammensetzung der Teilnehmerschaft in solchen Kommunikationsdiensten untersuchte das Forschungsprojekt zur "Sozialwelt des Internet" deshalb auch deren ego-zentrierte Netzwerke. Die Resultate der persönlichen Befragung von 101 'Usern' von ausgewählten Chats und Newsgruppen zeigen deutlich unterschiedliche Strukturen von Beziehungsnetzen in technisch und sozial verschiedenen Kommunikationsdiensten des Internet. So sind die online-Netze der NutzerInnen von asynchronen, eher thematisch orientierten 'Newsgroups' eher locker gewebt, was auf eine funktionale Separierung der Beziehungsnetze hindeutet. In den synchronen, kommunikativen 'Chats' lassen sich hingegen durchaus dichte online-Beziehungsnetze nachweisen. Zudem überschneiden sich bei vielen der meist jugendlichen "ChatterInnen" deren online- und offline-Netzwerke oft deutlich. Nicht selten wird die online-Kommunikation auch offline weitergeführt. Schliesslich zeigen die Resultate der Netzwerkstudie, dass trotz der oft zitierten "Ortlosigkeit" des Internet viele der online-Beziehungen der NutzerInnen stark lokal verwurzelt sind.
Wie werden solche bisweilen durchaus stabile Beziehungsnetze aufrechterhalten? In einem zweiten Teil des Forschungsprojektes wurden beobachtende Methoden eingesetzt, um das Kommunikationsverhalten und die soziale Organisation in ausgewählten Chats und Newsgruppen zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass die Herausbildung einer "funktionierenden" und über einen längeren Zeitraum hinweg stabilen online-Kommunikationsgruppe voraussetzungsreich ist und bei weitem nicht immer gelingt.
So stellen die einfache Exit-Option und die bisweilen erhebliche Fluktuation in Kommunikationsdiensten des Internet grosse Anforderungen an die soziale Bindungskraft und mithin an die Stabilität solcher Dienste mit ihren zum weitaus grössten Teil informellen Regeln und Bräuchen. Überdies führt die relative Anonymität der Teilnehmenden in online-Kommunikationsdiensten oft zu "sozialem Missverhalten". In den institutionell schwach strukturierten Chat- und Newsgruppen stellt sich somit die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Normbildung und insbesondere nach den sozialen und technischen Mitteln, Sanktionen durchzusetzen.
Erste Resultate dieses qualitativ orientierten Forschungsteils weisen insbesondere auf die Bedeutung einer verbindlichen Gruppenkultur hin. Nur wenn es den TeilnehmerInnen der online-Kommunikation gelingt, eine gruppenintern stabilisierende und gruppenextern abgrenzende gemeinsame "Kultur" herauszubilden, können gemeinsame Wertemuster aufgebaut und stabilisiert werden. Diese Integration erfolgt zu einem wesentlichen Teil mittels der Verwendung von gemeinsamen Sprachcodes - einem eigentlichen 'Slang' mit kryptisch anmutenden Abkürzungen, welche die Zugehörigkeit zur 'in-group' markieren.
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