Christoph Müller, Institut für Soziologie der Universität Bern
Die im folgenden vorgestellte Untersuchung entstand im Rahmen des Schwerpunktprogramms "SPP Zukunft Schweiz" im Forschungsverbund "Individualisierung und Integration". Das Forschungsprojekt "virtuelle Vergemeinschaftung" war am Institut für Soziologie der Universität Bern angesiedelt. Es wurde von Prof. Dr. Bettina Heintz (Mainz) initiert und geleitet.
Im Zentrum der Studie stand die die Frage, ob und inwiefern es in Kommunikationsdiensten des Internet zu Gemeinschaftsbildung kommt. Dazu untersuchten wir die persönlichen Netzwerke von NutzerInnen von zwei Newsgruppen und drei Chats. Neben den soziostrukturellen Daten der Teilnehmenden (Alter, Geschlecht, Bildung etc.) interessierte uns vor allem, wie deren Beziehungsnetze aussehen, und ob sich online-Netze und offline-Netze überschneiden.
In einem grösseren theoretischen Rahmen befasst sich das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt mit der sogenannten "Individualisierungthese", also mit der These, dass sich im Zuge der Modernisierung traditionelle Milieus, die früher gemeinschaftsbildend waren, immer mehr auflösen und also die Gesellschaft mithin "verschwinde". Als Belege für diese Entwicklung werden u.a. die folgenden vier Mobilitäten angeführt (Michael Walzer):
- die berufliche Mobilität (dass man häufig die Arbeitsstelle oder den Beruf wechselt);
- die geografische Mobilität (dass man häufig den Wohnort wechselt);
- die familiäre Mobilität (dass sich die Zusammensetzung von Familien oft verändert);
- die ideologische Mobilität (dass man zBsp. die Unterstützung einer Partei häufig wechselt).
Dies alles sind unbestritten Phänomene der heutigen "modernen" Gesellschaft, die angesichts der verschiedenen Wahlmöglichkeiten entsprechen als "Multioptionsgesellschaft" bezeichnet wurde (Peter Gross).
Sicher ist auch unbestritten, dass traditionelle Grossfamilien heute in der Schweiz selbst in ländlichen Gegenden kaum mehr vorkommen.
Dennoch stellt sich auch die Frage, ob sich neben dem Verschwinden von traditionellen Bindungen neue Formen von Vergemeinschaftung und von sozialer Integration entwickeln. So belegen etwa Studien aus den USA, dass gesellschaftliche Beziehungen sich keineswegs einfach so auflösen, sondern dass sie sich vielmehr verändern: Soziale Beziehungen sind in der Moderne selektiver geworden, sie sind funktional spezifischer, "kurzlebiger" und geografisch breiter gestreut. Zudem werden sie immer öfter mit technischen Kommunikationsmitteln aufrechterhalten: Mit Eisenbahnen, Autos und Flugzeugen, aber auch mit dem Telefon und - mehr und mehr - mit Kommunikationsdiensten des Internet.
Unser Forschungsinteresse richtet sich auf diese Entwicklungen und konkret auf die Frage, ob und inwiefern es im Internet zu neuen Formen der Gemeinschaftsbildung kommt.
Im Vergleich zu der üblichen "face-to-face"-Kommunikation bestehen bei den von uns untersuchten Text-basierten Diensten des Internet (Chats und Newsgroups) einige wesentliche Unterschiede:
1) Erstens sind die Ausdrucksmöglichkeiten bei dieser Internet-Kommunikation beschränkt: Verbale Äusserungen wie die Tonlage oder Räuspern fallen ebenso weg wie visuelle Aussagen sie etwa durch Körperhaltung, Gesten oder Kleider vermittelt werden. Durch die Beschränkung auf die einzige Dimension des Texts werden die Möglichkeiten eingeschränkt, die anderen Personen sozial zu verorten. Gleichzeitig ist es auch schwieriger, die Aussagen der anderen Personen richtig einzuschätzen.2) Die zweite Besonderheit der computer-vermittelten Kommunikation ist die Anonymität oder Pseudonymität, unter denen die Teilnehmenden auftreten. In den meisten technischen Systemen ist über diese Personen nur gerade der selbstgewählte Übername bekannt, der meistens völlig fiktiv formuliert werden kann. Dadurch wird die Zuverlässigkeit der Kommunikationspartner in Frage gestellt: Man weiss nicht, "mit wen man es zu tun hat".
3) Drittens ist es in den meisten Systemen möglich, unter verschiedenen Namen aufzutreten, sei es nacheinander, oder sogar gleichzeitig. "Identität" ist hier also alles andere als ein sicherer Wert, sondern erscheint als eine durchwegs multiple und wandelbare Form der Selbstdarstellung(en).
4) Und viertens ist es in diesen Diensten nicht nur vergleichsweise einfach, einzutreten, -- es braucht "bloss" einen Computer, eine Telefonleitung, ein Modem, und einen Zugang zum Internet -- es ist auch sehr einfach, wieder auszutreten. Mit einem simplen Tastendruck kann man jederzeit wieder verschwinden, was die Kontinuität einer Konversation erheblich behindert.
Diese vier Punkte werden in der Literatur oft als Defizite der computervermittelten Kommunikation beschrieben. Bei rein text-basierten Gesprächen kommt es öfter zu Missverständnissen; die Anonymität des Auftritts scheint die Hemmschwellen zu verringern, und mit der einfachen "Exit"-Option können sich die Teilnehmenden etwa einer kritischen Diskussion per Tastendruck sofort entziehen.
Anderseits bieten diese Kommunikationsform auch Vorteile: Die Beschränkung auf den Text erfordert und erlaubt kreative Sprachspiele - oft wird beispielsweise ein eigentlicher Jargon entwickelt -; der "niederschwellige" Zugang zu den Kommunikationsdiensten eröffnet breite Teilnahmemöglichkeiten, etwa auch für Menschen mit Sprechhemmungen oder mit körperlichen Besonderheiten; die Anonymität bieten den Schutz, unterschiedliche Aspekte des Selbst einmal versuchsweise auszuprobieren - und schliesslich können solche Identitäts- und Rollenspiele auch sehr unterhaltsam und lustig sein.
Allerdings ist diese Art von Kommunikation voraussetzungsreich und anspruchsvoll. Enstprechend bechränkt sich der allergrösste Teil der Konversation in den Chats denn auch auf oberflächliche Floskeln wie "Hallo wie gehts?" - "Wie alt bisch?" "wohär chunsch?"- "m oder f?", ein weiterer Teil auf mehr oder weniger plumpe Anmache, und ein weiterer Teil auf Provokationen.
Daneben - und ohne dies hätten wir unser Forschungsprojekt auch gleich abbrechen können - gibt es aber auch "tiefergehende" Gespräche, bei denen die Teilnehmenden ihre Freuden und Sorgen austauschen, sich Ratschläge in Lebens- und Computerfragen geben, sich unterhalten und eine Art "Gemeinschaft" kultivieren.
Im Rahmen unserer Studie haben wir aus der regelmässigen Nutzerschaft des SWIX-chats 31 Leute ausgewählt und mit ihnen im Sommer 1998 offline jeweils ein einstündiges Interview geführt. Einige Resultate:
- Die NutzerInnen sind mehrheitlich jung, mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren, mit drei Ausnahmen in einer Spanne zwischen 15 und 22 Jahren (insgesamt zwischen 15 und 46 Jahren);
- Sie sind mehrheitlich männlich, der Frauenanteil beträgt nur 16%;
- 81% von ihnen befinden sich noch in einer Ausbildung (Schule oder Lehre);
- Dem Alter entsprechend wohnen die meisten von ihnen noch bei den Eltern (87%);
- Der grösste Teil wohnt in der Stadt oder in der Agglomeration Zürich (77%).
--> Es handelt sich beim SWIX-chat also um eine ausgeprägte "Jugendkultur".
Die Befragten nutzten den Computer durchschnittlich während 39 Stunden pro Woche (5...80 h/W), davon das Internet während 22 h/W (5...60 h/W).
Im SWIX-chat verbringen sie durchschnittlich 13 h/W (1...60 h/W). Sie loggen sich vorwiegend von zu Hause aus ein, aber auch von der Schule oder vom Arbeitsplatz aus, seltener von einem Internetcafé oder von einem Jugendzentrum aus.
Als Grund für die Nutzung des SWIX-chat nennen sie vorwiegend soziale Motive: "Kontakte pflegen", "neue Leute kennenlernen" und "sich vergnügen".
--> Der SWIX-chat hat offensichtlich eine grosse Bedeutung für diese Jugendlichen; sie verbringen einen erheblichen Teil ihrer Freizeit in diesem "online-Jugendzentrum".
--> Bei den Befragten handelt es sich nicht um sozial isolierte Menschen:
- Durchschnittlich bestanden die Beziehungsnetze der Befragten aus 26 Bekannten (12...64);
- Rund die Hälfte der genannten Bekannten macht ebenfalls im SWIX-chat mit (47%).
- Beinahe die Hälfte der Befragten ist in einem Verein aktiv (45%).
--> Auffällig ist die starke Überschneidung der online- und der offline-Netze:
Nur ein Viertel aller genannten Bekannten sind reine "online"-Beziehungen.
Mit 9 von 10 Bekannten aus dem SWIX-chat finden die Kontakte sowohl im Chat wie auch ausserhalb davon statt (88%). Dabei wurde die Beziehung in den meisten Fällen zunächst im Chat geknüpft und dann "nach aussen" weitergetragen - etwa indem man sich am Wochenende in einer Disco trifft.
Diese Überschneidung der Netzwerke wird zusätzlich gefördert durch offline-Treffen, die vom SWIX-Betreiber selber veranstaltet werden. 9 von 10 Befragten gaben an, dass sie bereits an mindestens einem solchen Treffen teilgenommen hätten.
--> Die Bindung an den SWIX-chat ist relativ stark.
68% der Befragten bezeichnen diesen Chat als ihre "wichtigste Internetgruppe" und beinahe alle Befragten gaben an, im SWIX-chat "immer wieder mit denselben Leuten Kontakt" zu haben.
Nun könnte man vermuten, dass es sich dabei nur um "lockere", oberflächliche Beziehungen handelt. Dem ist aber nicht so:
Ein Viertel der Bekannten aus dem SWIX-chat wird subjektiv als "nahestehend" bezeichnet, bzw. die Hälfte der als "nahestehend" bezeichneten macht ebenfalls im SWIX-chat mit (47%). 41% von jenen Bekannten, mit denen die Befragten über "Persönliches" sprechen, machen ebenfalls im SWIX-chat mit. Aufgrund dieser subjektiven Einschätzungen der Befragten und aufgrund der Kontakthäufigkeiten kann durchschnittlich jede zweite der genannten SWIX-chat-Beziehungen als "eng" bezeichnet werden ("strong ties"). Entsprechend häufig sind deshalb eigentliche "Cliquen" innerhalb des SWIX-chat, bei denen sich alle Mitglieder untereinander kennen und regelmässig miteinander Kontakt haben.
--> Der SWIX-chat hat für die befragten (intensiven!) NutzerInnen nicht nur eine oberflächliche Bedeutung, sondern bietet auch Gelegenheiten für stärkere und tiefere Begegnungen.
Vor dem Hintergrund der Fragestellung unserer Forschungsprojektes können folgende Schlüsse gezogen werden:
a)
Das Beispiel des SWIX-chat stützt die These, dass es in Kommunikationsgruppen zu Internet zu Gemeinschaftsbildung kommen kann -- wie übrigens auch in den anderen beiden untersuchten Chatgruppen, kaum jedoch in den untersuchten Newsgruppen.
(Weitere Information finden sich hier).b)
Allerdings - und das mag entscheidend sein für das relativ gute Funktionieren des SWIX-chat - finden die meisten Beziehungen nicht ausschliesslich online statt, sondern werden in der Regel durch offline-Treffen stabilisiert. Der Chat ersetzt also nicht andere offline-Beziehungen, sondern ergänzt sie. So gesehen handelt es sich bei den Kommunikationsdiensten des Internet auch nicht um etwas völlig Neues, sondern einfach um ein anderes Medium.c)
Insgesamt ist festzuhalten, dass die online-Kommunikation via Internet voraussetzungsreich, anspruchsvoll und auch prekär ist. Da bei den von uns untersuchten Chats und Newsgruppen keine technischen Mittel vorgesehen sind, um Störungen wirksam zu sanktionieren, müssen Normverstösse grundsätzlich kommunikativ angegangen werden.
Voraussetzungen dafür sind erstens klare Normen, zweitens ein Selbstverständnis als Gruppe, und drittens eine Vertrauensbasis als Grundlage für das kollektive Handeln. Doch wie im "normalen Leben" dauert es auch in Internetgruppen jeweils lange, bis eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut ist, die dann vergleichsweise schnell wieder zerbrechen kann.
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Ein abschliessender Bericht des Forschungsprojekts "virtuelle Vergemeinschaftung" findet sich hier,
weitere Texte im Rahmen des Projektes hier.
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