Artikel in «UNIPRESS» (Bern) Nr. 108, April 2001.
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Weitere Texte zum Thema «virtuelle Vergemeinschaftung» finden sich hier.
Christoph Müller (muellerc@soz.unibe.ch)
Institut für Soziologie der Universität Bern
Das Internet ist weit mehr als eine riesige Bibliothek. Neben dem Bezug von Dokumenten oder Programmen ermöglichen verschiedene Dienste den Aufbau von online-Kommunikationsbeziehungen. Im Gegensatz zu dem meist einseitigen Austausch von Nachrichten mittels E-Mail zielen Newsgruppen und Chats («Schwätzchengruppen») auf multilaterale Beziehungen ab. Dies erlaubt es im Prinzip, neue Formen von Gemeinschaften zu etablieren. Ob und inwiefern diese prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten in der Praxis wahrgenommen werden, wird in einer Pilotstudie des Instituts für Soziologie untersucht.
Das Internet ist zunächst ein technisches Netzwerk, welches weltumspannend verschiedene Computer in nicht-hierarchischer Weise miteinander verbindet. Zugleich ist dieses technische System auch ein soziales Netzwerk, welches Menschen miteinander verknüpft.
Das soziologische Interesse am Internet richtet sich beispielsweise auf die Frage nach den institutionellen und organisatorischen Bedingungen, welche ein solches Netzwerk ermöglichen, nach den Elementen einer sozialverträglichen Gestaltung des Internet oder nach den Auswirkungen auf wirtschaftliche Beziehungen. Das vorliegende Projekt befasst sich mit der Frage, ob und inwiefern es in speziellen Kommunikationsdiensten des Internet zur Bildung von neuen Gemeinschaften kommt, bei welchen die Teilnehmenden losgelöst von ihrer Körperlichkeit und von einer gemeinsamen lokalen Präsenz ausschliesslich online interagieren. (Zu den Fachbegriffen siehe den Kasten unten).
Dazu wurden die persönlichen Netzwerke von Nutzer und Nutzerinnen von zwei Newsgruppen und drei Chats untersucht. Neben den soziostrukturellen Daten der Teilnehmenden (wie Alter, Geschlecht oder Bildung) und deren Nutzungsgewohnheiten interessiert vor allem, wie deren Beziehungsnetze aussehen, und ob sich Online- und Offline-Netze überschneiden.
Wie bei den meisten neuen Technologien war auch die Diskussion über das Internet in der Anfangsphase von sagenhaften Zukunftserwartungen geprägt. So wurde die Tatsache, dass Kommunikationsbeziehungen mehr und mehr durch den Computer vermittelt werden, von mancher Seite enthusiastisch begrüsst: Es würden neue Solidarbeziehungen entstehen, die «Cyberdemokratie» würde die Einflussmöglichkeiten der kleinen Bürger gegenüber den Mächtigen aus Wirtschaft und Staat stärken. Andere befürchteten hingegen, dass sich solidarische Gemeinschaftsbeziehungen auflösen, dass durch die Nutzung des Internet die wesentlichen Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen verkümmern und die Gesellschaft schliesslich nur noch aus vereinsamten «Aliens» bestehen werde bleiche und kranke Maschinenmenschen, die in ihre Bildschirme starren.
- Erstens sind die Ausdrucksmöglichkeiten bei dieser Internet-Kommunikation beschränkt: Verbale Äusserungen wie Tonlage oder Räuspern fallen ebenso weg wie visuelle Aussagen durch Körperhaltung, Gesten oder Kleider.
- Zweitens treten die Teilnehmenden meist anonym oder pseudonym auf. In den meisten technischen Systemen ist über diese Personen nur gerade der selbstgewählte Übername bekannt, der oft völlig fiktiv formuliert wird.
- Drittens ist es in den meisten Systemen möglich, unter verschiedenen Namen aufzutreten, sei es nacheinander oder sogar gleichzeitig. Identität erscheint dabei als eine durchwegs multiple und wandelbare Form der Selbstdarstellung(en).
- Und viertens ist es in diesen Diensten nicht nur vergleichsweise einfach einzutreten, es braucht "bloss" einen Computer, eine Telefonleitung, ein Modem, und einen Zugang zum Internet , es ist auch sehr einfach, wieder auszutreten.
Diese vier Eigenschaften der computervermittelten Kommunikation stellen in der Praxis oft strukturelle Defizite dar: Bei ausschliesslich auf Texten basierten Gesprächen kommt es öfter zu Missverständnissen; die Anonymität des Auftritts scheint die Hemmschwellen für Unflätigkeiten zu verringern, und mit einem einfachen Tastendruck können die Teilnehmenden den Kontakt sofort abbrechen.
Andererseits bietet diese Kommunikationsform auch Vorteile: Die Beschränkung auf den Text erfordert und erlaubt kreative Sprachspiele oft wird beispielsweise ein eigentlicher Jargon entwickelt (sh. den Kasten «Emoticons») . Der niederschwellige Zugang zu den Kommunikationsdiensten eröffnet breite Teilnahmemöglichkeiten, etwa auch für Menschen mit Sprechhemmungen oder mit körperlichen Besonderheiten. Die Anonymität bietet ein geschütztes Umfeld, um unterschiedliche Aspekte des Selbst auszuprobieren oder sich unbekannten Personen gegenüber zu öffnen, und schliesslich können solche Identitäts- und Rollenspiele auch sehr unterhaltsam und lustig sein.
Insgesamt führen die besonderen und ungewohnten Anforderungen an die Teilnehmenden jedoch meist zu einer Banalisierung der Kommunikation. So beschränkt sich der allergrösste Teil der Konversation in den Chats auf oberflächliche Floskeln wie "Hallo, wie geht's?" "Wie alt bisch?" "Wohär chunsch?" "m (männlich) oder f (weiblich)?". Daneben gibt es aber auch tiefergehende und zum Teil ernsthafte Gespräche, bei denen die Teilnehmenden ihre Freuden und Sorgen austauschen, sich Ratschläge in Lebens- und Computerfragen geben und mithin eine Art Gemeinschaft kultivieren. Dies wirft die Frage auf, inwiefern online-Gemeinschaften in der Realität existieren und wie sie soziologisch aussehen.
Das Internet wird von ihnen im Durchschnitt insgesamt während mehr als 18 Stunden pro Woche genutzt. Sie verbringen mithin einen beträchtlichen Teil ihrer Freizeit oder Arbeitszeit vor dem Computer.
Trotzdem handelt es sich keineswegs um Einzelgänger oder Einzelgängerinnen: In den Interviews wurden durchschnittlich 21 Personen als Kontaktpartner namentlich identifiziert. Zu fast der Hälfte von diesen Partnern (46 %) haben sie täglich oder mehrmals wöchentlich Online-Kontakt. Zu 40 % der Kontaktpersonen haben sie auch einen intensiven Offline-Kontakt. Dabei ist insgesamt eine starke Überschneidung von online- und Offline-Netzen festzustellen: nur ein Viertel aller Beziehungen ist exklusiv online, ein weiteres Viertel ist exklusiv offline, und die Hälfte der Beziehungen findet sowohl online als auch offline statt. So macht z. B. jeder dritte Bekannte, mit dem die Befragten ausserhalb des Internet die Freizeit verbringen, überdies auch im gleichen Internetgefäss mit. Interessant ist dabei, dass der erste Kontakt in den weitaus meisten Fällen via Computer zustande kam und anschliessend auch nach draussen verlängert wurde zum Beispiel in einer Disco.
Man könnte nun vermuten, dass es sich bei diesen Beziehungen nur um lockere, oberflächliche und relativ unverbindliche Gelegenheitskontakte handelt, um sogenannte «weak ties». Dem ist aber nicht so: mindestens ein Drittel jener, denen sich die Befragten «persönlich nahestehend» fühlen, die sie als "gute Freunde oder Freundinnen " bezeichnen oder mit denen sie über «Persönliches» sprechen, sind zugleich auch Internetbekannte. Die Internetgefässe haben für sie nicht nur eine oberflächliche Bedeutung, sondern sie bieten auch Gelegenheiten für tiefere Begegnungen. Allerdings finden nur gerade 2 % aller starken Beziehungen ausschliesslich online statt. Das heisst, in Kommunikationsgruppen des Internet bestehen zwar durchaus auch viele starke persönliche Beziehungen, doch werden sie typischerweise nicht ausschliesslich online aufrechterhalten, sondern sind durch Begegnungen ausserhalb des Internet stabilisiert: Sie sind also lokal verwurzelt.
Viele der enthusiastischen Prognosen über eine glitzernde neue Online-Welt des Internet sind Marketingargumente der Hersteller von Soft- und Hardware; andererseits werden viele kulturpessimistische Befürchtungen durch empirische Beispiele widerlegt. Wie weltverändernd die neuen Kommunikationstechnologien wirklich sind, wird nicht nur durch Spekulationen entschieden, sondern hauptsächlich durch die konkrete Praxis der Anwendungen. Im Falle des überaus offen strukturierten und relativ frei zugänglichen Internet werden die gesellschaftlichen Auswirkungen durch die aktuelle Nutzung geprägt: Entscheidend ist, wer was konkret mit dem prinzipiell vorhandenen Potential macht.
Christoph Müller, Institut für Soziologie der Universität Bern
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Die Untersuchung entstand im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Schwerpunktprogramms "Zukunft Schweiz" im Forschungsverbund "Individualisierung und Integration". Das Forschungsprojekt "virtuelle Vergemeinschaftung" wurde von Prof. Dr. Bettina Heintz (Mainz) initiert und geleitet. Die Studie wird gegenwärtig vom Autor zu einer Dissertation am Instituts für Soziologie der Universität Bern ausgebaut.
Ein abschliessender Bericht des Forschungsprojekts «virtuelle Vergemeinschaftung» findet
sich hier,
weitere Texte im Rahmen des Projektes hier).
In Chats werden die Mitteilungen in der Regel nicht archiviert. Die Kommunikation findet synchron statt, also quasi gleichzeitig, und lässt sich z.B. mit CB-Funk vergleichen: Auch hier bestehen mehrere Kanäle, in denen sich eine unterschiedliche Anzahl von Teilnehmenden tummelt. Die Äusserungen können sich aufeinander beziehen und so «Gespräche» bilden. Neben den eigentlichen Sprechakten können in Chats auch textlich simulierte "Handlungen" generiert werden.
Online bezieht sich in diesem Artikel auf alle durch Computerverbindungen vermittelte Kommunikationsbeziehungen, *offline* auf alle Beziehungen ausserhalb des Internet, typischerweise «von Angesicht zu Angesicht». Obwohl die «offline-Welt» bisweilen als «real life» (RL) bezeichnet wird, sind online-Beziehungen in keiner Weise «irrealer» als erstere.
Besonders in Chats wird die Kommunikation oft durch Emoticons angereichert. Dies sind spezielle Zeichenkombinationen der Schreibmaschinentastatur, z.B. ;-). Wird der Computermonitor nach rechts gekippt, kann dieses Zeichen als augenzwinkerndes Gesicht entziffert werden. Smileys dienen der Präzisierung von Aussagen, aber auch der Profilierung der Nutzerinnen und Nutzer und der Abgrenzung gegenüber «Newbies», Neulingen.
:-) | grinsend, glücklich |
:-Q | RaucherIn |
:-(( | sehr traurig |
:-X | grosser Kuss |
(-: | linkshändig |
:-S | Quatsch redend; verwirrt |
:-# | verschwiegen |
:-I | gleichgültig |
(:-D | Plappermaul |
:-D | laut lachend |
;-/ | grübelnd |
{:-) | mit Toupet |
#-) | was für eine Nacht! |
[:-) | mit Walkman |
%-) | stoned |
#-) | Brett vor dem Kopf |
:-{ | mit Schnurrbart |
8-) | Brillenträgerin |
:-O | schockiert |
:-@ | schreiend |
=:-( | ein echter Punk lächelt nicht! |
$|-) | träume vom Geld |
@->-->-- | Rose |
<*:-) | Zauberer |
C={>;*{)) | Betrunkener, teuflischer Chefkoch mit Toupet, Schnurrbart und Doppelkinn |
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