Kopie von: http://www.soz.unibe.ch/forschung/ii/

Forschungsverbund 'Individualisierung und Integration'

 

Fallstudie 'Die Sozialwelt des Internet'

Projektleitung: Prof. Dr. Bettina Heintz
Projektmitarbeit: lic. phil. Christoph Müller Kontakt)

 

"progress report" vom August 1999
zuhanden des SPP "Zukunft Schweiz"
des Schweizerischen Nationalfonds.

 


 


Einführung, Vorgehen

Das soziologische Projekt befasst sich mit der Frage, inwieweit es im Internet zu einer "virtuellen Vergemeinschaftung" kommt. Um diese Frage zu beantworten, wurden verschiedene qualitative und quantitative Erhebungen durchgeführt. Das Schwergewicht liegt auf der Erhebung der persönlichen Netzwerke von Personen, die die Kommunikationsdienste des Internet regelmässig nutzen.

  1. Expertengespräche mit Personen, die in den Kommunikationsdiensten Schlüsselfunktionen innehaben: Systemoperatoren, Betreiber von Kommunikationsdiensten, ModeratorenInnen sowie NutzerInnen, die besonders aktiv an der Organisation von Chats, Newsgruppen oder MUDs beteiligt sind. Insgesamt wurden zehn Interviews durchgeführt. Die Expertengespräche dienten der Einarbeitung ins Forschungsfeld und der Vertiefung der Fragestellung.
     
  2. Erhebung der persönlichen Netzwerke von Personen, die die Kommunikationsdienste des Internet regelmässig nutzen (n=101). Im Fragebogen wurden Angaben zum Nutzungsverhalten und den persönlichen Netzwerken sowie soziodemographische Daten zu den Befragten und den von ihnen genannten Alteri erhoben. Die Gestaltung des Fragebogens und die Durchführung der Interviews fand in enger Koordination mit dem von Dr. Eva Nadai durchgeführten Teilprojekt "zivile Vergemeinschaftung" statt. Die Interviewdaten wurden mit den Statistikprogrammen SPSS und UCINET ausgewertet. Für die Visualisierung der Netzwerkdaten wurde das Programm KRACKPLOT beigezogen.
     
  3. Regelmässige Online-Beobachtung der fünf ausgewählten Dienste und quantitative Erhebung ihrer Nutzungsfrequenzen. Für die beiden ausgewählten Newsgruppen wurde zwischen Oktober 1997 und August 1999 zudem ein umfassender Korpus von mehreren zehntausend Mitteilungen erstellt. Bei den drei Chatgruppen konnte aus technischen Gründen keine lückenlose Aufzeichnung erstellt werden. Dennoch umfasst die Datensammlung mehrere Dutzend Megabytes an öffentlichen Gesprächen.

 

Theoretischer Hintergrund

Im Mittelpunkt des Projekts steht die Frage, inwieweit sich im Internet neue Formen der Sozialintegration bilden. Damit schliesst das Projekt an eine Diskussion an, die im deutschsprachigen Raum im Rahmen der Differenzierungs- und Individualisierungstheorie, in den USA unter dem (doppelsinnigen) Begriff des community-Wandels geführt wird und sich seit den 70er Jahren zunehmend auf netzwerkanalytische Studien stützt (vgl. ausführlicher Heintz 1999).

Anstatt "Gemeinschaft" statisch als spezifische Lebensform aufzufassen, die durch Zusammengehörigkeit und eine enge Mitgliederbindung charakterisiert ist, wird sie in diesem Projekt als Kontinuum begriffen, das von bilateralen Beziehungen über Netzwerke mit hoher Dichte bis hin zu Gruppen reicht. Die insbesondere auch in der deutschen Individualisierungsdiskussion vorherrschende Auffassung, wonach sich "Gemeinschaft" primär über die subjektive Dimension der Verbundenheit, Solidarität und Zugehörigkeit definiert, wird m.a.W. durch ein strukturelles Konzept ersetzt, das Gemeinschaft in Termini sozialer Beziehungen beschreibt (Calhoun 1980). Je nach Typus und Vernetzungsgrad von Beziehungen kann ein Beziehungsnetz mehr oder weniger "Gemeinschaftscharakter" haben.

Konkret unterschieden wir in diesem Projekt zwischen...

  1. personal communities, d.h. Netzwerken, die ausschliesslich aus bilateralen Beziehungen bestehen,

  2. group communities, d.h. Netzwerken mit hoher Dichte, in denen sich die Bezugspersonen auch untereinander kennen, und schliesslich

  3. Gruppen, die zusätzlich definiert sind über eine gemeinsame Identität und eine klare Abgrenzung gegen aussen (vgl. Neidhardt 1979).
(Die Unterscheidung zwischen personal communities und group communities stammt von Wellman/Gulia 1996.)

Die Strukturspezifika computervermittelter Kommunikation und die Tatsache, dass die Hürden für kooperatives Verhalten im Internet um einiges höher sind als in der Realwelt (vgl. Kollock/Smith 1996) lassen es als zweifelhaft erscheinen, ob es im Internet tatsächlich häufig zur Bildung stabiler Gruppen kommt. Sehr viel verbreiteter sind vermutlich netzwerkartige Beziehungen, in denen die einzelnen News oder Chatgruppen nur den Status eines Treffpunkts haben, ohne selbst ein eigenständiges soziales System zu bilden. Die in der Internetliteratur verbreitete methodische Strategie, bereits bestehende Gruppen zum Untersuchungsfokus zu machen, führt unseres Erachtens zu einer Überschätzung der Bedeutung virtueller Gruppen. Die Tatsache, dass es auch schwächere Formen der virtuellen Integration geben kann, wird dabei systematisch übersehen. Dies zeigen die Ergebnisse des Projekts.

 

Wichtigste Ergebnisse

Sampling

Die Auswahl der Befragten erfolgte in zwei Schritten. In einem ersten Schritt ging es darum, aus den existierenden Kommunikationsdiensten eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Als eine besondere Schwierigkeit erwies sich dabei die grosse Fluktuation in einzelnen Gefässen: Da bei weitem nicht alle im Internet technisch vorhandenen Dienste auch wirklich aktiv genutzt werden, galt es zunächst, mittels regelmässiger Beobachtung die effektiven Nutzungsfrequenzen einzuschätzen. Aus den auf diese Weise ermittelten aktiven Gruppen wurden für die Untersuchung zwei Newsgruppen und drei Chatgruppen ausgewählt.

Bei den Schweizer USENET-Newsgruppen handelt es sich um >ch.comp<, eine Gruppe, in der vorwiegend über Computerfragen kommuniziert wird, und um >ch.talk< mit Diskussionen zu allgemeinen, die Schweiz betreffenden Themen.
Bei den drei Chatgruppen handelt es sich um SFDRS-chat, einen Web-basierten Chat des deutschsprachigen Schweizer Fernsehens DRS, um SWIX-chat, einen Telnet-basierten Chat des gleichnamigen Internetproviders in Zürich, und um MICS, einen ebenfalls auf Telnet beruhenden Service von >ezinfo<, gleichsam ein "hauseigenes" Kommunikationssystems der ETH Zürich.

(Die Dienste MICS und SWIX wurden kurz vor Abschluss des Forschungsprojekts stillgelegt.
Der SWIX-chat wurde anschliessend im Dezember 1999 wiedereröffnet.)

Das Internet als neues Kommunikationsmedium bietet für die Sozialforschung zwar vergleichsweise einfache Möglichkeiten für das Sammeln von Daten, stellt aber andererseits erhebliche Probleme bezüglich des repräsentativen Sampling (1). Das Projekt verfolgte deshalb eine zweiteilige Strategie: Zum einen wurden mittels snowball sampling gezielt "ExpertInnen" oder "Cracks" für ein Netzwerkinterview angegangen, und zum anderen wurden mithilfe eines Zufallsverfahrens regelmässige NutzerInnen aus den fünf Untersuchungsgefässen ausgewählt (2). Trotz anfänglicher Skepsis gegenüber der Befragung gelang es schliesslich, die beabsichtigte Anzahl Interviews zu realisieren. Die Gespräche dauerten im Durchschnitt knapp eine Stunde. 64 der 101 Interviews wurden vom Projektbearbeiter Christoph Müller realisiert, die weiteren 37 von fünf externen Interviewern.

Sozial und Nutzungsprofil

Das Durchschnittsalter der Befragten beträgt 23 Jahre, mit einer Spannweite von 14 bis 51 Jahren. Entsprechend befinden sich 56% der Befragten noch in Ausbildung, 85% sind ledig, 56% wohnen noch bei den Eltern und nur 10% haben Kinder. Nur 11% der Befragten sind weiblich. 34% der Befragten gaben im Interview eine Partnerschaft an.
Der Bildungsstatus ist vergleichsweise hoch: über ein Viertel besucht eine Universität oder hat eine solche besucht, ein weiteres Viertel eine Mittelschule. Ein Drittel der Befragten arbeitet in einem informatiknahen Beruf oder absolviert eine entsprechende Ausbildung. Mehr als die Hälfte der Befragten wohnt in einem städtischen Gebiet (54%), 28% in einer Agglomeration und 18% auf dem Land.

Das Internet wird von den Befragten intensiv genutzt. Im Durchschnitt verbringen sie rund 35 Stunden pro Woche vor dem Computer, davon 18 Stunden im Internet (2 bis 75 Std./Woche). Im Durchschnitt wird das Internet seit drei Jahren genutzt. In der Regel gelangen mehrere Dienste zur Anwendung: Beinahe alle Befragten nutzen E-mail (99%) und das "World Wide Web" (WWW, 97%), viele auch FTP (File Transfer, 80%), 78% halten sich regelmässig in Chats auf, 58% lesen oder schreiben in Newsgruppen, 58% wenden ICQ an (3). Seltener ist die Nutzung von MUDs (Multi User Dimensions, 19%), und nur 5% spielen regelmässig Online-Computerspiele. Durchschnittlich werden fünf dieser sieben Dienste benutzt.

Aufgrund der für das Internet typischen einfachen Exit- und Switch-Optionen könnte vermutet werden, dass stabile Beziehungen zu einem bestimmten Dienst relativ selten sind. In der Befragung zeigte sich aber, dass für ungefähr die Hälfte der Befragten die Samplinggruppe gleichzeitig auch die wichtigste Gruppe ist (4). Insgesamt geben 29% der Befragen eine Newsgruppe als ihre "wichtigste Gruppe" an, knapp die Hälfte einen Chat (47%), 10% ein MUD und 14% den ICQ-Dienst. Während die NutzerInnen von Newsgruppen durchschnittlich in zehn solcher "Foren" mitmachen, werden von ChatterInnen im Durchschnitt nur zwei Chats genutzt. Beinahe die Hälfte macht sogar nur bei einer einzigen Gruppe mit (46%).

Während bei den NutzerInnen von Newsgruppen meist kognitive Motive im Vordergrund stehen (Fachdiskussionen, sich informieren, Hinweise versenden), überwiegen bei den ChatterInnen soziale Motive (neue Leute kennenlernen, bestehende Bekanntschaften pflegen, sich vergnügen, Rollenspiele spielen). Obwohl es in Internetdiensten prinzipiell möglich ist, mit mehrere Identitäten zu "spielen", kommen solche Experimente ausserhalb der explizit als Rollenspiele definierten MUDs kaum vor: 64% der Befragten geben an, in ihrer wichtigsten Gruppe nur einen einzigen Absender zu benutzen. Weitere 22% geben zwei Absender an, und nur 14% verwenden mehr als zwei Absender. Entsprechend werden Geschlechter oder Altersgrenzen kaum je überschritten.

Insgesamt bestehen zwischen den eher instrumentell orientierten Newsgruppen und den kommunikativ orientierten Diensten (Chats, MUDs, ICQ) teilweise erhebliche Unterschiede, was das Nutzungs- und Sozialprofil der NutzerInnen anbelangt (sh. Tabelle):

Tabelle: Vergleich Ego-Daten nach Typus der "wichtigsten Gruppe"

 

sig.#

total

Newsgruppe

Chat/MUD/ICQ

 

 

(N=101)

(N=29)

(N=71)

Alter Ego (in Jahren)

(1)

23.6

29.1

21.2

Anteil Ego weiblich (in %)

(2)

11

7

13

Anteil Ego in Ausbildung (in %)

**

57

28

69

Anteil Ego ledig (in %)

(2)

85

69

92

Anteil Ego bei Eltern wohnend (in %)

**

56

24

69

Anteil Ego mit Partnerschaft (in %)

**

34

55

25

Anteil Ego mit universitärer Bildung (%)

**

26

48

17

Anteil Ego mit Informatikberuf/-ausbildung (%)

--

36

38

35

Nutzung Computer (Std./Woche)

--

35.3

33.9

35.4

Nutzung Internet (Std./Woche)

--

18.3

14.8

19.6

Nutzung "wichtigste Gruppe" (Std./Woche)

++

9.7

2.3

12.4

Anteil Kontakt "mit dsb." in wichtigster Gruppe (%)

**

87

59

99

Dauer der Internetnutzung (in Jahren)

(2)

3.1

4.6

2.4

# Signifikanzen:
(1)  T-Test: t signifikant, F nicht signifikant;
(2)  teilweise zu geringe Zellengrössen;
**   p<0.01 (mit chi2 berechnet);
++   p<0.01 (T-Test, F und t signifikant);
--   nicht signifikant.

Netzwerkbeziehungen

Die persönlichen Netzwerke der Befragten wurden über sog. Namensgeneratoren erhoben. Da vor allem die virtuellen Netzwerke interessierten, enthielt der Fragebogen eine Reihe von Namensgeneratoren, die sich spezifisch auf mögliche OnlineAlteri bezogen. Im Durchschnitt wurden 21.5 Alteri genannt (zwischen 5 und 64). Nach einer Reduktion der Anzahl möglicher Namensnennungen auf maximal zwanzig und nach Ausschluss von drei für die Auswertung nicht geeigneten Namensgeneratoren ergibt sich ein "Kernnetz" von durchschnittlich 16 Alteri, mit einer Spannweite von 5 bis 20 Personen. Entgegen der populären These, dass das Internet zu sozialer Vereinsamung führt, sind die Befragten also durchaus in persönliche Netzwerke eingebettet.
(In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass 60% der Befragten aktiv in einem Offline-Verein mitmachen und nur 20% in einem Einzelhaushalt wohnen.)

Wie von der Untersuchungsanlage her zu erwarten war, gaben die meisten Befragten eine relative hohe Zahl von Online-Alteri an: 38% der genannten Alteri sind Peers aus der wichtigsten Gruppe und 24% stehen auf der persönlichen ICQ-Liste von Ego. Ausschliesslich virtuelle Beziehungen sind jedoch ebenso selten wie exklusiv realweltliche (24% vs. 26%); sehr viel häufiger finden die Kontakte sowohl offline wie auch online statt, d.h. man trifft sich in beiden Welten.
Im Gegensatz zu den klassischen Kommunikationsmitteln gehen Offline-Kontakte den Online-Beziehungen nicht notwendigerweise voraus, in vielen Fällen ist die Reihenfolge genau umgekehrt: wer sich im Netz kennengelernt hat, wird sich früher oder später auch offline treffen. So kennen die Egos durchschnittlich 67% der Peers aus ihrer wichtigsten Gruppe auch offline, und bei 51% fand der erste Kontakt virtuell statt. Die Kommunikationsdienste des Internet bieten somit wesentliche Möglichkeiten zur Erweiterung der Beziehungen über den unmittelbaren sozialen und geographischen Raum hinaus. (Eine erste Gelegenheit zu Offline-Kontakten bieten dabei oft die Treffen, die von einigen Chatgruppen und MUDs regelmässig organisiert werden. In den Newsgruppen des USENET sind solche organisierten Treffen nicht üblich.)

In vielen Fällen gehen die "sekundären" Offline-Kontakte über punktuelle Begegnungen hinaus und nehmen die Form von relativ engen Beziehungen an, jedenfalls gemessen an der Häufigkeit, mit der man sich trifft. Gut 30% der Online-Alteri, mit denen man mindestens einmal pro Woche im Netz Kontakt hat, trifft man in ähnlicher Frequenz auch offline. Besonders bei den Chatdiensten zeigt sich eine starke Überschneidung zwischen Online- und Offline-Kreisen. Online-Vertrautheit und Offline-Kontakte stützen sich gegenseitig und tragen gemeinsam zur Intensivierung von Beziehungen bei.

Offline-Beziehungen weisen in der Regel allerdings eine andere Qualität auf als Online-Beziehungen: sie sind enger, multiplexer und sozial homogener. Unterteilt man die Ego-Alteri-Beziehungen in drei Kontakttypen...

(a) ausschliesslich oder überwiegend offline-Kontakte,
(b) ausschliesslich oder überwiegend Online-Kontakte, und
(c) sowohl Online- als auch Offline-Kontakte,
    ... dann zeigt sich, dass die Offline-Beziehungen enger sind als die Online-Beziehungen. So werden beinahe 50% der Offline-Alteris als "persönlich nahestehend" bezeichnet, während dies nur bei 11% der Online-Alteris der Fall ist. Strong ties sind im Netz mit anderen Worten selten.

Dennoch sind immerhin 10% der Alteri, mit denen Ego über "Persönliches" spricht, primär Online-Bekanntschaften, und mit 40% haben die Befragten ebenso häufig online wie offline Kontakt. Im Chat-Bereich haben die Online-Beziehungen eine relativ hohe Stabilität: Beinahe alle ChatterInnen (99%) geben an, in der für sie wichtigsten Gruppe immer wieder mit denselben Online-Alteri Kontakt zu haben. Bei den NutzerInnen von Newsgruppen ist dieser Prozentsatz deutlich geringer (59%). Ein wichtiger Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Ausrichtung der beiden Gruppentypen: Newsgruppen sind in der Regel thematisch orientiert, Chats personenorientiert.

Offline-Kontakte sind in der Regel multiplexer als Online-Kontakte (55% vs. 30%) (5 ). Auch hier zeigen sich zwischen den Gruppentypen deutliche Unterschiede: Wer einen Chat als "wichtigste Gruppe" angibt, weist signifikant öfter multiplexe Online-Beziehungen auf.

Die beiden Netze unterscheiden sich schliesslich auch hinsichtlich ihrer sozialen Homogenität (6). Von Ego aus betrachtet sind die Online-Kontakte sozial heterogener als die Offline-Beziehungen. Die Vermutung, wonach Online-Kommunikation die Tendenz zur Bildung von sozialen Enklaven verstärkt, kann aufgrund der vorliegenden Daten nicht bestätigt werden.

Auch wenn die Online-Beziehungen in einigen Fällen durchaus engen und multiplexen Charakter haben, so kann daraus noch nicht auf dichte virtuelle Netzwerke geschlossen werden. Die Beziehungen haben unter Umständen rein bilateralen Charakter, sind also personal communities, nicht group communities. (Die schematischen Unterschiede zwischen den beiden Typen von communities werden hier grafisch dargestellt.)

 

Multilaterale Beziehungen lassen sich über die Dichte eines Netzwerkes erfassen, d.h. über das Verhältnis zwischen realisierten und prinzipiell möglichen Beziehungen (7). Durchschnittlich beträgt die Dichte in den untersuchten Netzwerken 0.36. Während sich die Alteri im Offline-Bereich teilweise auch untereinander kennen, sind solche multilateralen Beziehungen im Online-Bereich selten (0.16 vs. 0.08). Die Dichte der Beziehungen zwischen den Alteri, die sich sowohl online als auch offline kennen, liegt mit 0.11 dazwischen.

Allerdings zeigen sich auch bei dieser Variable signifikante Mittelwertunterschiede zwischen den beiden Gruppentypen: Wer eine Newsgruppe als "wichtigste Gruppe" angibt, weist signifikant höhere Offline-Dichten auf, gleichzeitig aber auch signifikant geringere On-und-offline-Dichten. Demgegenüber lassen sich bezüglich der Online-Dichte keine signifikanten Mittelwertunterschiede feststellen. Auch diese Daten bestätigen das bereits erwähnte Ergebnis: Wer Newsgruppen bevorzugt, weist in den persönlichen Netzwerken seltener Überschneidungen zwischen Online- und Offline-Peers auf.

 

Group communities sind keine Gruppen. Sie liegen gewissermassen im Mittelbereich zwischen ausschliesslich bilateralen Beziehungen und der Integration in eine virtuelle Gruppe. Über die Erhebung der persönlichen Netzwerke lässt sich die Gruppenbindung nicht direkt ermitteln. Dazu hätte man zusätzlich für jede Gruppe das Gesamtnetzwerk erheben müssen. Es ist jedoch zu vermuten, dass zwischen Gruppenbindung und der aktiven Partizipation an Prozessen, die die Gruppe insgesamt betreffen, eine enge Beziehung besteht. Eine solche aktive Partizipation kann vieles umfassen und unterschiedlich ausgeprägt sein: sie reicht von einer Beteiligung an Abstimmungen über Moderationen bis hin zum Status eines wizard oder privilegierten Users.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein solches Engagement relativ selten vorkommt: nur knapp 25% der Befragten hat jemals an Aktivitäten teilgenommen, die über die übliche Nutzung hinausgehen. Zwischen Chattern und Nutzern von Newsgruppen besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied. Dies stützt die oben formulierte Vermutung, dass Online-Beziehungen nur selten gruppenförmig organisiert sind, sondern eher die Form von relativ lockeren Netzwerken annehmen.

 

Zusammenfassend

...können folgende Ergebnisse festgehalten werden:

 


Fussnoten

1.
An dieser Stelle sei lediglich auf zwei Grundschwierigkeiten des Samplings von Online-Populationen hingewiesen: Zum einen ist die Grundgesamtheit der Nutzerschaft in aller Regel nicht bekannt, zum anderen treten die Teilnehmenden -- gerade in Chats -- in der Regel unter einem oder mehreren Pseudonymen auf, was Rückschlüsse auf eineindeutige Personen erheblich erschwert. Bislang sind noch keine überzeugenden Lösungen der daraus entstehenden Probleme bekannt, so dass dem hier angewendeten Verfahren Pioniercharakter zukommt. zurück

2.
Bei den Newsgruppen wurden die regelmässigen NutzerInnen über die öffentlichen Inhaltsverzeichnisse ermittelt, anhand derer sich die Frequenzen an "Absendern" feststellen lassen. Aus dem Pool der regelmässigen Teilnehmenden wurde anschliessend eine Zufallsauswahl getroffen. Diese wurde per E-mail angeschrieben und um eine Teilnahme an einem Interview angefragt. Bei den Chats erfolgte die Ermittlung der regelmässigen NutzerInnen mittels regelmässiger automatisierter Aufzeichnungen der zu bestimmten Zeitpunkten Anwesenden. Auch hier wurde aus diesem Pool ein Zufallssample gezogen. Da von den Untersuchungssubjekten in der Regel nur ihr Übername bekannt war, wurden sie jeweils online, im Chat selber, angesprochen und von einer Teilnahme an der Befragung zu überzeugen versucht. Neben den technischen Schwierigkeiten stellten sich bei diesem Vorgehen auch neue Fragen im Bereich der Forschungsethik und des Datenschutzes. Obwohl beim beschriebenen Samplingverfahren nur öffentlich zugängliche Daten verwendet und die Angaben anonymisiert wurden, löste das Verfahren aufgrund der Beschwerde eines so "Beobachteten" eine Intervention des Datenschutzbeauftragen des Kantons Bern aus. zurück

3.
ICQ (i.e. "I seek you") ist ein von der Firma Mirabilis entwickelter messenger service. In Europa und in der Schweiz setzte im Frühjahr 1998 ein eigentlicher ICQ-Boom ein, also genau zu Beginn unserer Netzwerkbefragung. Aus diesem Grund konnte ICQ nur am Rand in die Befragung aufgenommen werden. Obwohl ICQ im Prinzip auch synchrone "chat"-Funktionen mit mehreren gleichzeitig anwesenden NutzerInnen erlaubt, wird der Dienst vorwiegend für peer-to-peer-Kommunikation eingesetzt - ähnlich wie ab Sommer 1999 der SMS-Dienst über Mobiltelefone. zurück

4.
Mit der Unterscheidung in "Samplinggruppe" und "wichtigste Gruppe" wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die eigentliche "Online-Heimat" für einige Befragte möglicherweise nicht in der Samplinggruppe, sondern u.U. in einer ganz anderen der mehreren 10'000 weltweit verstreuten Internetgruppen liegt. Für die nachfolgenden Analysen wurden die Nennungen von Chats, MUDs oder ICQ bei der Frage nach der "wichtigsten Gruppe" zum Typus "Chat etc." zusammengefasst und dem Typus "Newsgruppe" gegenübergestellt. zurück

5.
Uni- bzw. Multiplexität wurde darüber erhoben, in wie vielen verschiedenen Zusammenhängen, d.h. bei wie vielen Namensgeneratoren die jeweiligen Alteri genannt wurden. Dabei wurde zusätzlich zwischen Online- und Offline-Beziehungen unterschieden. In beiden Bereichen konnten die Alteri maximal je vier Funktionen abdecken (Bsp. für den Offline-Bereich: Verbringen der Freizeit, Diskussion persönlicher Probleme, Geben bzw. Nehmen von Computerhilfe). Als uniplex wurden Beziehungen charakterisiert, in denen Alteri in nur einem Zusammenhang erwähnt wurden, ansonsten wurden sie als multiplex eingestuft. zurück

6.
Die soziale Homogenität wurde anhand von sieben Ähnlichkeitsvariabeln in der Beziehung zwischen Ego und Alter gemessen (gleiches Alter, gleicher Bildungsstatus, gleicher Wohnort, etc.). zurück

7.
Die meisten Daten der Netzwerkuntersuchung beziehen sich als relationale Daten auf das Verhältnis zwischen Ego und Alter. Um darüber hinaus auch noch eine Aussage auf der Ebene der Alteri-Alteri-Beziehungen machen zu können, wurde in einem weiteren Teil des Interviews für alle genannten Alteri gefragt, ob diese sich auch untereinander kennen, und wenn ja, ob (a) ausschliesslich online, (b) ausschliesslich offline, oder (c) sowohl online als auch offline. zurück


Publikationen

Weitere Publikationen sind in Vorbereitung (sh. auch den Überblick).


Kontakt


 

 

Das Forschungsprojekt zur "Sozialwelt des Internet" ist Teil des Forschungsverbundes "Individualisierung und Integration", innerhalb des Moduls "Individuum und Gesellschaft" im sozialwissenschaftlichen Schwerpunktprogramm
SPP "Zukunft Schweiz".

Das Projekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert
und vom Institut für Soziologie der Universität Bern unterstützt.

Das Projekt dauerte vom April 1997 bis Oktober 1999.


letztmals geändert am 22.10.99 / korrigert am 16.2.2004 / Christoph Müller

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