Kopie von: http://www.soz.unibe.ch/forschung/ii/

Forschungsverbund 'Individualisierung und Integration'

 

Fallstudie 'Zivile Vergemeinschaftung':
Neue Modelle organisierter Solidarität

Projektleitung: Dr. Eva Nadai

 

Schlussbericht vom Januar 2000
zuhanden des SPP "Zukunft Schweiz"
des Schweizerischen Nationalfonds

 


 


 

1. Forschungsstand und Fragestellung

Im Rahmen des Forschungsverbunds 'Individualisierung und Integration' untersucht das vorliegende Projekt neue Modelle organisierter Solidarität als Beispiel für den Typus der «zivilen Vergemeinschaftung». Als zivile Vergemeinschaftung bezeichnet Behr (1995, 335) eine Form der Sozialintegration, die auf einem spezifischen Verständnis von bürgerlichen Rechten und Freiheiten und einer Kultur der Distanzierung &endash; im Sinne der Wahrung gewisser Intimitätsschranken beim Anderen &endash; basiert und durch eher geringe Verbindlichkeit und wenig sozialen Zwang gekennzeichnet ist. Zivile Vergemeinschaftung ist «Wahlvergemeinschaftung» (Lau 1988, 222) und steht als solche immer «unter dem Vorbehalt der Änderbarkeit» (ebd., 223). Wie ist unter diesen Bedingungen der jederzeit aufkündbaren, reflexiven Wahlvergemeinschaftung Solidarität noch möglich und welche Formen nimmt sie an?

Im Kontext der Individualisierungsdiskussion wird ein grundlegender Wandel, wenn nicht gar ein Schwinden von Solidarität konstatiert, der sich verkürzt auf die Formel 'von Gemeinsinn zu Eigennutz' bringen lässt. Die Überprüfung dieser These wird dadurch erschwert, dass sich in der einschlägigen Literatur keine einheitliche Definition des Solidaritätsbegriffs findet. Als Kern elemente des Begriffs lassen sich die Idee eines wechselseitigen Zusammenhangs zwischen Mit gliedern einer irgendwie gearteten Gruppe, sowie das moralische Band zwischen ihnen eruieren (Bayertz 1998, Wildt 1998). Man kann grob zwei Perspektiven unter scheiden: in der einen bezeichnet Solidarität &endash; in der Durkheim'schen Tradition &endash; einen Integrationsmodus, und im Vordergrund stehen Aspekte wie Kohäsion, kollektive Identität, wechselseitige Anerkennung etc. Die andere Sichtweise fokussiert auf den Aspekt des wertbasierten Handelns; Solidarität wird als spezifisches Steuerungsprinzip sozialen Handelns verstanden.

In der Integrationsperspektive ist Solidarität ein quasi naturwüchsiges Produkt gegenseitiger Abhängigkeiten und geteilter Werte und wird im Individualisierungsprozess durch die Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen und durch Wertepluralisierung gefährdet. Verlust von Solidarität bedeutet hier die Auflösung von Verbindlichkeiten und ein Abbröckeln des 'moralischen Kitts' der Gesellschaft (1). Liegt der Akzent auf dem Handlungsaspekt von Solidarität, ist der Rückgang an informellem und formellem Engagement in der Öffentlichkeit Untersuchungsgegenstand. Insbesondere in diesem Kontext wurde die Verlustthese mittlerweile abgelöst von der These eines Wandels von Solidarität. In dieser Sicht schliessen sich Individualisierung und Solidarität nicht aus. Es verändern sich nur Motivationen und Solidaritätspraxen weg von 'Zwangs'- hin zu 'Wahlsolidaritäten'. Solidarität, die auf freiwillig eingegangenen Verpflichtungen beruht, entsteht nach Hondrich/Koch-Arzberger (1992) erst auf der Grundlage einer partiellen Loslösung aus traditionalen Bindungen. Sie ist kein verschwindendes Relikt aus vormodernen Zeiten, sondern nimmt im Gegenteil zu: es wachsen Zahl, Reichweite und &endash; als Folge von Institutionalisierung und Organisierung &endash; auch die Dauerhaftigkeit von Solidaritäten (ebd., 22).

In meinem Projekt beziehe ich mich auf den Handlungsaspekt und verstehe unter Solidarität mit Hondrich/Koch-Arzberger (1992, 14) «Hilfe oder Unterstützung (...), die aus dem Gefühl der Gleichgerichtetheit von Interessen oder Zielen gegeben wird, aus einer besonderen Verbundenheit, in der zumindest die &endash; sei es fiktive &endash; Möglichkeit der Gegenseitigkeit mitgedacht wird.» Ich beschränke mich zudem auf organisierte Formen solidarischen Handelns und erfasse informelle Unterstützung in sozialen Netzwerken nur am Rande, insofern sie von den Untersuchungspersonen geleistet wird.

Der Wandel von organisierter Solidarität im Rahmen zivilgesellschaftlicher Assoziationen wird in der Literatur unter den Stichworten 'Rationalisierung' und 'Strukturwandel des Ehrenamts' diskutiert. Mit Rationalisierung meint Wuthnow (1991) einerseits die Transformierung der generalisierten moralischen Verpflichtung zum Altruismus in die zeitlich und inhaltlich begrenzte Rolle der Freiwilligen, die stellvertretend für die Gesellschaft Solidarität praktizieren. Anderseits bezieht er den Begriff spezifischer auf die planmässige Initiierung und die rationalen Strukturen neuer Formen des gesellschaftlichen Engagements (Wuthnow 1994). Die deutschsprachige Forschung zum Strukturwandel organisierter Solidarität geht von der zentralen These einer Entwicklung weg von Gemeinwohlorientierung hin zu individualistisch-selbstbezogenem Engagement aus. Aus Werte- und Motivationswandel wird zudem auf eine Umschichtung von Engagement von 'konventionellen' hin zu 'unkonventionellen' Organisationsformen geschlossen, z.B. von traditionellen bürokratisierten Grossverbänden hin zu selbstorganisierten Basisgruppen, befristeten Projekten etc. (vgl. Beiträge in Kistler et. al 1999, Müller/ Rauschenbach 1988). Implizit oder explizit wird dabei zudem in der Regel unterstellt, dass solidarisches Engagement heute weniger stabil und verlässlich sei.

Mein Projekt fragt nach den Entstehungs- und Stabilisierungsbedingungen von Solidaritätspotentialen in einer individualisierten Gesellschaft und untersucht insbesondere auch die Rolle der 'civic infrastructure' (Evers 1999). Können neue Organisationsformen im Vergleich zur traditionellen Freiwilligenarbeit neue Solidaritätspotentiale erschliessen, und mit welchen Mitteln mobilisieren sie Mitglieder? Findet in diesen Organisationen Vergemeinschaftung unter den Mitgliedern statt, und inwiefern trägt Gemeinschaftsbildung allenfalls zur Förderung solidarischen Handelns bei? Welche Bedeutung messen die Mitglieder ihrem Engagement bei, und welche Formen informeller und formeller Solidarität praktizieren sie?

 

2. Forschungsdesign und Methoden

Die Studie umfasst drei explorative Fallstudien von innovativen Solidaritätsmodellen, die bezüglich Zielen und Organisationsformen kontrastieren. Bei der Zielsetzung wird unterschieden nach traditioneller Fremdhilfe versus Selbsthilfe &endash; d.h. nach unterschiedlichem Akzent auf Gemeinsinn versus Selbstbezug. Ein relevantes Auswahlkriterium bezüglich Organisationsform ist der Grad an Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten der Mitglieder (professionalisierte Organisation versus 'Basisgruppe'). Untersucht wurden (1) die Vermittlungsstelle für Freiwilligenarbeit Benevol in Basel, (2) ein Mütterzentrum in Bern und (3) der gesamtschweizerisch aktive LETS-Tauschring Talent Experiment mit Zentrale in Aarau.

 

2.1. Untersuchungsgruppen

(1) Benevol ist eine unabhängige Vermittlungs- und Beratungsstelle für Freiwillige, die seit 1993 in Betrieb ist und von einer professionellen Stellenleiterin geführt wird. Die Stelle hat zwei Aufgaben, nämlich Vermittlung und Beratung von Freiwilligen einerseits sowie Öffentlichkeitsarbeit zur gesellschaftlichen Aufwertung von Freiwilligenarbeit anderseits. Benevol vermittelt pro Jahr rund 120 bis 150 Personen für freiwillige Einsätze an gemeinnützige Institutionen (vorwiegend im Sozialbereich) und Privatpersonen und bietet ihnen Kurse und Erfahrungstreffen an. In Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wurden Richtlinien über den Umgang der 'Auftraggeber' mit Freiwilligen aufgestellt (z.B. bezüglich Spesenentschädigungen, Versicherungen, zeitlichem Umfang von Einsätzen, Ausweisen für freiwillige Einsätze etc.) und politische Vorstösse zur Aufwertung von Freiwilligenarbeit formuliert. Für die individuellen Freiwilligen steht der Einsatz für andere (Fremdhilfe) eindeutig im Vordergrund; auf der Ebene der Organisation kann Benevol ein Stück weit als Selbsthilfeversuch im Hinblick auf die Anerkennung der Freiwilligen selbst betrachtet werden. Das Modell ist jedoch kein kollektives Projekt von Freiwilligen, sondern die professionelle Stellenleiterin handelt diesbezüglich 'von oben' anwaltschaftlich für die Freiwilligen.

(2) Mütterzentren wollen Frauen mit Kindern Aktivitätsräume, Kontaktchancen, Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten ausserhalb der Familie verschaffen und verfolgen die Leitprinzipien der Anerkennung von Laienkompetenzen, Bezahlung der Arbeit im Zentrum und Einbezug der Kinder bei allen Aktivitäten. Mütterzentren sind Selbsthilfeprojekte und verwerfen gerade das traditionelle Konzept der spezifischen (positiven) Qualität unbezahlter Tätigkeit für die Gemeinschaft. Damit begeben sie sich allerdings in die Grauzone zwischen grosszügig entschädigter Freiwilligen- und prekärer Erwerbsarbeit. Das untersuchte Mütterzentrum in Bern wurde 1990 gegründet, funktionierte bis vor kurzem basisdemokratisch (2) und kann dank Subventionen die Grundideen des Modells tatsächlich umsetzen. So wird den rund 40 bis 45 mitarbeitenden Müttern z.B. ein Stundenhonorar von 15 Franken bezahlt. Die Frauen arbeiten in der Regel einen halben Tag pro Woche in den Bereichen Kinderbetreuung, Restauration und Organisation des Zentrums. Ihre Kinder werden in dieser Zeit unentgeltlich im Zentrum betreut; ebenso dann, wenn die Mutter einen Kurs im Zentrum besucht.

(3) Talent ist ein Tauschkreis nach dem Vorbild der aus Kanada stammenden Local Exchange and Trading Systems (LETS), in denen Dienstleistungen und Güter mittels einer selbstgeschaffenen Nebenwährung &endash; hier: 'Talente' &endash; über eine zentrale Vermittlungsstelle getauscht werden. Die LETS-Tauschringe sind ursprünglich unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit in wirtschaftlichen Krisenregionen entstanden und verstehen sich als Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem. Der geldlose Tausch soll ein alternativer Zugang zu Arbeit und Einkommen sein, sowie regionale Wirtschaftskreisläufe und lokale soziale Netze fördern &endash; ein Tauschkreis ist also ein Selbsthilfeprojekt. Talent wurde 1993 gegründet und zählt mittlerweile rund 1000 Mitglieder, die in weitgehend autonomen Regionalgruppen organisiert sind. Der Tauschkreis ist als offenes Netz konzipiert, das sowohl den Regionalgruppen wie den einzelnen Mitgliedern sehr viel Gestaltungsfreiheit überlässt. Getauscht werden kann grundsätzlich alles, was auf eine Nachfrage trifft; die Tauschmodalitäten (Preise und 'Währungsmix' zwischen 'Talenten' und Franken) handeln die Tauschpartner untereinander aus. Angebote und Nachfragen werden in einer Marktzeitung publiziert; die Transaktionen werden mittels Buchungsaufträgen dem nationalen Sekretariat in Aarau gemeldet und den Konti der Tauschenden gutgeschrieben bzw. belastet.

 

2.2. Forschungsdesign und Methoden

Die Studie bezieht drei Ebenen ein: Akteure, Netzwerke und Organisationen. Auf Akteurebene wurden Deutungsmuster von Solidarität und Gemeinschaft, solidarisches Handeln in formellen und informellen Zusammenhängen sowie Karrieren öffentlichen Engagements untersucht. Die Analyse der persönlichen Netzwerke zielte zum einen auf die Frage nach sozialer Integration der Untersuchungspersonen generell, zum anderen spezifischer auf die Vergemeinschaftungsfunktion der Untersuchungsgruppen. Die persönlichen Netzwerke werden als «personal communities» (Wellman/Carrington/Hall 1988) mit offenen Grenzen betrachtet, welche die Individuen mit verschiedenen sozialen Welten (Strauss 1978) verbinden, u.a. auch mit der Untersuchungsorganisation. Für diese wurde danach gefragt, ob sich darin «group communities» (3) der Mitglieder beobachten lassen bzw. ob sich darin soziale Gruppen im engeren Sinn (4) bilden. Die Organisationen wurden auf ihre Mobilisierungsstrategien analysiert sowie daraufhin, inwieweit ihre Strukturen Vergemeinschaftung der Mitglieder begünstigen oder erschweren bzw. ob und wie das Angebot von 'Gemeinschaft' als Mittel zur Generierung von solidarischem Engagement eingesetzt wird.

Das Forschungsdesign verbindet qualitative und quantitative Methoden und umfasst Expertengespräche, offene Interviews, eine standardisierte mündliche Befragung zur Erfassung persönlicher Netzwerke sowie eine qualitative Inhaltsanalyse schriftlicher Dokumente (vgl. Tab. 1).

Tabelle 1: Übersicht über die Untersuchungsanlage

Datenbasis

Analyseebene

Benevol

Talent

Mütterzentrum

Experteninterview

Organisationsstrukturen
und -kultur

N = 1

N = 2

N = 1

offene Interviews

Deutungs- und
Handlungsmuster

N = 6

N = 5

N = 5

standardisierte Interviews

persönliche Netzwerke
und Engagement

N = 34

N = 36

N = 27

Dokumente

Deutungsrahmen und
Strukturen

Jahresberichte,
Werbematerial,
Freiwilligenkartei

Werbematerial,
Marktzeitungen,
Website

Jahresberichte,
Leitbild,
Kursprogramme

Das Schwergewicht lag bei den qualitativen Interviews mit Mitgliedern der drei Gruppen. Sampling und Analyse folgten dabei dem Vorgehen der «grounded theory», bei dem Datenerhebung und -analyse verschränkt werden (Strauss 1994, Kelle 1994). Die Interviewpartner werden dabei auf analytischer Basis nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung schrittweise ausgewählt und die Interviews fortlaufend ausgewertet. Die Fallkontrastierung wird bis zur Saturierung der im Forschungsprozess entwickelten theoretischen Konzepte fortgesetzt, d.h. bis weitere Fälle keine neuen, theoretisch relevanten Gesichtspunkte mehr ergeben. Als Erhebungsinstrument diente das problemzentrierte Interview (Witzel 1982), das offenes Erzählen mit leifadengestützem Nachfragen kombiniert. Die Auswertung erfolgte zum einen nach dem Konzept-Indikator-Modell (Strauss 1994) mit dem Ziel eines thematischen Vergleichs. Zum anderen wurden ausgewählte Passagen aus den Interviews (sowie aus Dokumenten) sequenzanalytisch nach dem Verfahren der objektiven Hermeneutik ausgewertet (Reichertz 1997)(5).

Die persönlichen Netzwerke einer erweiterten Stichprobe wurden mittels standardisierter mündlicher Interviews erhoben. Im Mütterzentrum fand eine Vollerhebung statt, bei Benevol und Talent wurde eine Zufallsstichprobe aus den Adresskarteien gezogen. (6) Der in Zusammenarbeit mit dem Teilprojekt 'Virtuelle Vergemeinschaftung' von Bettina Heintz und Christoph Müller entworfene Fragebogen besteht aus drei Teilen: (a) Ego-Daten (soziodemographische Angaben und Engagement der Befragten), (b) Erfassung und Beschreibung der Alteri und Beziehungen, (c) Beschreibung der Netzwerkstruktur (u.a. mittels Kontaktmatrix der Alteri)(7). Die Auswertung erfolgte mittels SPSS entsprechend dreistufig.

Diverse Dokumente der drei Gruppen (vgl. Tab. 1) wurden vorwiegend qualitativ ausgewertet im Hinblick auf das Deutungsangebot der Organisationen an ihre (potentiellen) Mitglieder. Bei Benevol konnte zusätzlich die Kartei der vermittelbaren Mitglieder (N = 180) quantitativ ausgewertet werden. Für Talent lieferte die quantitative Auswertung der 'Marktzeitungen' über mehrere Jahre ein Bild über die regionale Verteilung und Angebots- bzw. Nachfragestruktur, die auch als (schwacher) Indikator für die Situierung der Gruppe in 'alternativen' Milieus (Vester et al. 1993) gelesen werden kann.

 

3. Theoretischer Rahmen

Ob, wofür und in welcher Form sich individuelle Akteure öffentlich engagieren, hängt nicht allein von gegebenen und stabilen Werthaltungen und Motivationen ab, sondern von einem komplexen Zusammenspiel individueller und struktureller Faktoren (vgl. Nadai 1996, Kap. 3). Ein Interesse an einem Engagement sowie spezifische Handlungsmuster formieren sich vor dem Hintergrund von Lebenslage, Biographie und Ressourcen (soziale, kulturelle, materielle und zeitliche) und müssen in Bezug gesetzt werden zum organisationellen Kontext, in dem ein Individuum aktiv wird. Zentral für die Aufnahme eines Engagements ist insbesondere das soziale Kapital einer Person, d.h. die Einbindung in soziale Netze, denn persönliche Beziehungen sind ein wichtiger Rekrutierungsmodus freiwilliger Assoziationen (u.a. Hodgkinson 1995) (8). Ob der Deutungsrahmen einer bestimmten Organisation für ein Individuum lebensweltliche Resonanz entfaltet, hängt u.a. davon ab, ob dieser Rahmen mit dessen alltagsweltlichen Erfahrungen vereinbar ist (vgl. Snow/Benford 1988), sich also an seine gesamte Lebenssituation anschliessen lässt.

Die Mobilisierungsbemühungen der untersuchten Organisationen lassen sich mithilfe von Konzepten des Framing-Ansatzes aus der Forschung zu sozialen Bewegungen analysieren (Kreissl/ Sack 1998). Kollektive Akteure stehen vor der Aufgabe, diagnostische, prognostische und motivationale Rahmen zu entwickeln, um Anhänger zu gewinnen und Handeln zu mobilisieren (Snow/ Benford 1988). Sie müssen ein Problem und seine Ursachen identifizieren, Lösungsansätze formulieren und überzeugende Begründungen für die Notwendigkeit individueller Partizipation anbieten. Diese Deutungsrahmen sind kognitive handlungsleitende Strukturen, gleichzeitig tragen sie immer auch, gewollt oder ungewollt, zur Formierung persönlicher und kollektiver Identitäten bei (Hunt et al. 1994) (9). Verschiedene «frame alignment»-Strategien (Snow et al. 1986) dienen dazu, individuelle und kollektive Orientierungsrahmen in Übereinstimmung zu bringen. Bei diesem interaktiven Prozess der Abstimmung von individuellen und kollektiven Deutungen spielen «symbolic boundary objects» (Star/Griesemer 1989) als Verdichtungen von zentralen Rahmenelementen eine wichtige Rolle. Symbolische Grenzobjekte sind materielle oder immaterielle Objekte, die verschiedenen sozialen Welten angehören, aber für jede dieser Welten relevant sind und so als gemeinsamer Anknüpfungspunkt fungieren können. Weil Symbole grundsätzlich vielschichtig und deutungsoffen sind, beruht die durch sie gestiftete Gemeinsamkeit eher auf einer Konsensfiktion als auf einem tatsächlichen Konsens (Cohen 1986; Star/Griesemer 1989).

Insofern die Konstruktion von Deutungsrahmen eine interaktive Leistung ist, können sie auch als «joint production» einer «sharing group» (Lindenberg 1997) betrachtet werden, die gemeinsam Güter produziert, welche die einzelnen Mitglieder für sich allein nicht erreichen können. Das in den Rahmen enthaltene Orientierungswissen ist ein solches immaterielles Kollektivgut; dazu kommen je nach Gruppe weitere, die mit ein Anreiz für Engagement sein können. Die Herstellung bzw. Bewirtschaftung kollektiver Güter wirft allerdings das Problem des opportunistischen Handelns einzelner Mitglieder auf (Lindenberg 1997; Ostrom 1990). Elinor Ostrom hat anhand von «common pool resources»(10) institutionelle Faktoren herausgearbeitet, die längerfristiges kollektives Handeln begünstigen, z.B. eindeutige Mitgliedschaftsbedingungen, partizipative Entscheidungsfindung, angepasste Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und einfache Konfliktlösungsmechanismen. In Anlehnung an diese Designprinzipien lassen sich Merkmale der Organisationen identifizieren, die zum einen die Produktion kollektiver Güter, zum andern aber auch Vergemeinschaftung innerhalb der Organisation fördern (z.B. durch strukturelle Bereitstellung von Kontakt- und Kooperationsmöglichkeiten).

Als Organisationen sind die untersuchten Solidarmodelle zunächst einmal ein auf rational motivierter Interessenverbindung basierender Zweckverband und damit Ort der Vergesellschaftung im Sinne Max Webers. Ob sich in diesem Rahmen auch Vergemeinschaftung, d.h. auf «subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten» (Weber 1972, 21) beruhende Beziehungen ergeben, ist empirisch zu prüfen. Vergemeinschaftung wird hier zudem entlang zweier Dimensionen graduell gefasst: Vorhandensein von Beziehungen (strukturelle Dimension: Grösse, Dauerhaftigkeit und Struktur von Beziehungsnetzen), Qualität dieser Beziehung (kulturelle Dimension: Zusammengehörigkeitsgefühl). Entstehen innerhalb der Organisationen überhaupt Beziehungen zwischen Mitgliedern; handelt es sich dabei nur um bilaterale Beziehungen ohne Bezug zum Kollektiv; bilden sich «group communities» (Wellman/Gulia 1999), d.h. dichte Netze mit multilateralen Beziehungen zwischen Mitgliedern, oder kann davon gesprochen, dass die Mitglieder der Organisation eine soziale Gruppe bilden mit einer gemeinsamen Identität in Abgrenzung nach aussen (Neidhardt 1979, vgl. oben). Ausmass und Formen von Vergemeinschaftung innerhalb der Solidarmodelle werden beeinflusst durch das strukturelle Organisationsdesign, durch die Deutungsrahmen sowie durch soziale Homogenität bzw. Heterogenität der Mitgliederbasis (rekrutieren sich die Mitglieder aus kulturelle nah oder weit auseinanderliegenden sozialen Welten?).

Die untersuchten Solidarmodelle erhalten ihre gesellschaftliche Bedeutung durch ihr Potential zur Generierung und Pflege von «Sozialkapital» (Putnam 1993). Dieser Begriff, der in der Diskussion um Solidarität und Gemeinsinn einen prominenten Platz erhalten hat, bezeichnet Normen, soziale Netze und Vertrauensverhältnisse, welche Kommunikations-, Kooperations- und Hilfsbereitschaft fördern und dergestalt eine Art sozialmoralische Ressource für gesellschaftliche Integration darstellen (Paxton 1999). Offe (1999, 115f.) unterscheidet dabei kommunitäre von zivilgesellschaftlichen Erscheinungsformen von Sozialkapital(11). Bei ersteren beschränken sich Kooperations- und Solidarnormen auf eine bestimmte Gemeinschaft; im Falle letzterer wird der Geltungsbereich über eine wie auch immer geartete Eigengruppe hinaus ausgeweitet, so dass die entsprechenden universalistischen «zivilgesellschaftlichen Dispositionen» (ebd., 115) Brücken zwischen sozialen Gruppen schlagen können.

 

4. Ausgewählte Ergebnisse

(12)

 

4.1. Mitglieder

Die drei Modelle rekrutieren ihre Mitglieder aus deutlich unterschiedlichen sozialen Kreisen, wobei die Mitgliederbasis des Mütterzentrums am homogensten, diejenige von Talent am heterogensten zusammengesetzt ist (vgl. unten Tab. 2).

Bei Benevol lässt sich eine soziale Öffnung konstatieren: es beteiligen sich vermehrt Personen, die im Vergleich mit traditionellen Freiwilligen weniger privilegiert bzw. sozial integriert sind (13). Die Mitglieder leben öfter allein und/oder partizipieren nicht (mehr) am Arbeitsmarkt. Neben individualisierten Begründungsmustern für Freiwilligenarbeit findet sich nach wie vor ein kommunitär inspiriertes Engagement, das als zwingende Verpflichtung gegenüber bestimmten Gemeinschaften erlebt wird. Auch bei der unpersönlichen und öffentlich zugänglichen Vermittlungsstelle spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle für die Rekrutierung: 44% der Freiwilligen kommen durch derartige Beziehungen zu Benevol (14).

Die bedeutsamste Gemeinsamkeit der Mitglieder des Mütterzentrums ist die Mutterschaft: es handelt sich vorwiegend um nichterwerbstätige Mütter mit Kindern im Vorschulalter. Basis der Teilnahme ist somit die Zugehörigkeit zur «seriellen Kollektivität» der Mütter (Young 1994). Im Unterschied zu erwerbstätigen Müttern verwerfen die Mitarbeiterinnen die Option extrafamiliale Kinderbetreuung bzw. Doppelbelastung durch Beruf und Familie; im Unterschied zu freiwillig tätigen Familienfrauen lehnen sie Gratisarbeit als Mittel der Teilhabe an der Öffentlichkeit ab. Das Mütterzentrum mobilisiert so ebenfalls ein neues Segment aus seiner potentiellen Zielgruppe. Das Engagement im Mütterzentrum ist eng verknüpft mit der individuellen Deutung von Mutterschaft (15). Im Vergleich zu den beiden anderen Untersuchungsgruppen ist die persönliche Rekrutierung besonders ausgeprägt: 61% der Mitglieder werden durch Bekannte und Freundinnen angeworben.

Die Talent-Mitglieder kommen aus allen Altersgruppen und gehören bezüglich Bildung und Beruf zu den privilegierten Schichten. Die qualitativen Interviews und die Auswertung der Angebote in der Marktzeitung lassen eine Übervertretung der «sozial-kulturellen Spezialisten» (Kriesi 1995,15) vermuten, d.h. Angehöriger von Berufen, die in hohem Mass Bildung, kommunikative Kompetenzen und Eigenverantwortung voraussetzen. Das qualitative Datenmaterial legt zudem den Schluss nahe, dass die Mitglieder oft einem 'alternativen' Milieu zuzuordnen sind. Talent gelingt es eindeutig nicht, eine der angestrebten Zielgruppen zu erreichen, nämlich Arbeitslose oder andere Randständige, für die der Tauschkreis der Idee nach ein Mittel zur materiellen und sozialen Integration sein könnte. Für die Mitglieder hat die Teilnahme bei Talent in erster Linie die Funktion, eine gesellschaftskritische Überzeugung in praktisches Handeln umzusetzen oder mindestens durch Zugehörigkeit symbolisch darzustellen (16). 44% der Mitglieder finden über persönliche Netze den Zugang zum Tauschkreis.

Tabelle 2: soziodemographisches Profil der Mitglieder

Benevol Mütterzentrum Talent
% % %
weiblich 66 100 47
männlich 34 -- 53
Alter
<39 9 84 23
40-54 30 16 51
55-61/64 35 -- 17
>= 62/65 26 -- 9
Bildung
Sekundarstufe I 3 3 3
Sekundarstufe II: beruflich 66 50 30
Sekundarstufe II: allgemein 13 19 12
Tertiärstufe: beruflich 3 12 18
Tertiärstufe: universitär 15 16 37
Erwerbsstatus
teilzeiterwerbstätig 10 36 36
vollzeiterwerbstätig 15 -- 50
erwerbslos 10 6 3
Hausfrau 17 58 --
AHV/IV-RentnerIn 44 -- 6
in Ausbildung 4 -- 5
Haushaltsituation
alleinlebend 56 3 29
mit PartnerIn, ohne Kind 26 -- 14
mit PartnerIn und Kind(ern) 12 78 29
ohne PartnerIn, mit Kind(ern) 3 13 17
Wohngemeinschaft 3 6 11
N = 180 N = 32 N = 36

Quelle: eigene Erhebung; bei Talent und Mütterzentrum Interviews, bei Benevol Kartei der Freiwilligen
(für Haushaltsituation nur Interviews, N = 34)

 

4.2. Deutungsrahmen und kollektive Identität

Die Gruppen müssen Deutungsrahmen anbieten, die offen genug sind, um Differenzen zwischen den Mitgliedern zu überbrücken, und gleichzeitig in verdichteter Form eine kohärente Deutung eines für die Gruppe zentralen Sachverhalts bieten sowie eine kollektive Identität vermitteln. Das gelingt den drei Organisationen unterschiedlich gut.

Benevol stellt in seiner Rahmung den 'unschätzbaren' gesellschaftlichen Wert von Freiwilligenarbeit und deren mangelnde Anerkennung in den Vordergrund. Ausgehend davon setzt die Stelle bei der Mobilisierung von Freiwilligen auf symbolische Aufwertung von Freiwilligenarbeit und Steigerung des individuellen Nutzens für die Freiwilligen. Der postulierte Wert von Freiwilligenarbeit fungiert als gemeinsamer Anknüpfungspunkt für die Mitglieder, wobei der damit verknüpfte «Kampf um Anerkennung» (Honneth 1992) nur für einen Teil der Freiwilligen gleichzeitig ein persönliches Anliegen ist. Benevol gelingt es mit der Botschaft, dass sich solidarisches Handeln mit individuellem Nutzenkalkül vertrage, Freiwillige für einen Einsatz zugunsten anderer zu mobilisieren, nicht jedoch für kollektives Handeln als Freiwillige. Die Rahmung von Benevol verzichtet fast völlig auf einen Bezug zu einer 'Gemeinschaft'. Die Begründung für freiwilliges Engagement wird ins einzelne Individuum verlegt und so geradezu aus einem Gemeinschaftsbezug gelöst.

Das Mütterzentrum kann in seiner Rahmung auf den emotional hochbefrachteten kulturellen Code 'Mutterschaft' zurückgreifen, dessen Relevanz für die Mitglieder vorgängig gegeben ist. Es greift die strukturellen Gemeinsamkeiten der «seriellen Kollektivität» (Young 1994) der Mütter auf: ökonomische Abhängigkeit, mangelnde soziale Anerkennung und Ausschluss aus der Öffentlichkeit. Diese Diagnose wird umgesetzt in den Leitprinzipien des Zentrums (1) Bezahlung der Arbeit, (2) Anerkennung der Kompetenzen von Müttern und (3) Einbezug der Kinder bei allen Aktivitäten, um den Müttern die Teilhabe an der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Das Zentrum soll der androzentrischen Logik des Arbeitsmarkts, der sich die Institution Familie anzupassen hat (Krüger 1995), ein mütter- bzw. kindzentriertes Modell entgegensetzen. Die Mitarbeiterinnen leben und deuten Mutterschaft sehr verschieden, beziehen sich aber dennoch auf eine gemeinsame Erfahrung als Mütter &endash; sei es qua Biologie, soziale Lage oder gemeinsames politisches Projekt. 'Mutterschaft' dient so als symbolisches Grenzobjekt und Kern einer kollektiven Identität, die sich stärker in Abgrenzung gegenüber kinderlosen Frauen als gegenüber Männern formiert. Dies gelingt gerade deshalb, weil das Zentrum 'Mutterschaft' inhaltlich nicht definiert, so dass Differenzen bezüglich angemessener mütterlicher Praxis ausgeblendet bleiben können.

Dem Konzept von Talent liegen die anfangs dieses Jahrhunderts formulierte Freiwirtschafstheorie des Ökonomen Silvio Gesell und weitere ökonomische Geldschöpfungskritiken zugrunde. Der Zinsmechanismus wird als Wurzel allen Übels betrachtet, weil er individuelle und gesellschaftliche Verschuldung sowie wirtschaftichen Wachstumszwang mit einer Reihe von negativen Folgen schafft. Um diesen wirtschaftstheoretischen Kern lagert sich eine diffuse 'Systemkritik', die so verschiedene Themen wie Ökologie, Zweidrittelsgesellschaft, Solidarität- und Gemeinschaftsverlust anspricht. Als prognostische Rahmung propagiert Talent den geldlosen Tausch im Nahraum, um regionale Kreisläufe zu stärken, soziale Netze zu knüpfen und Marginalisierte ökonomisch und sozial zu integrieren. Diese Kombination einer radikalen Wirtschafstheorie mit einer vagen Gesellschaftskritik, die eine Vielzahl aktueller Probleme aufgreift, aber nicht wirklich ausformuliert, ermöglicht die Unterstellung eines grundlegenden weltanschaulichen Konsens unter den Mitgliedern, die sich als lose verknüpfte Gesinnungsgemeinschaft von politisch 'Progressiven' verstehen. Die Annahme einer fundamentalen ideologischen Nähe bildet die Basis einer kollektiven Identität, wobei diese sich auf die Ebene der gemeinsamen Zugehörigkeit zur sozialen Arena einer breit gefassten Alternativ-, Ökologie- und Drittweltbewegung bezieht, nicht aber auf die Ebene der Organisation Talent (vgl. Rupp/Taylor 1999).

 

4.3. Organisationsdesign und Produktion kollektiver Güter

Zwei Aspekte von Benevol können als Kollektivprodukte betrachtet werden: 'moderne' Begründungsmuster für Engagement und die gesellschaftliche Aufwertung von Freiwilligenarbeit. Solidarisches Handeln kann heute nicht mehr aus fraglosen Verpflichtungen abgeleitet werden, sondern ist begründungspflichtig geworden. Indem das Framing von Benevol Freiwilligenarbeit als gesellschaftlich unverzichtbare, aber in ihrem wahren Wert verkannte Arbeit beschreibt, stellt es ein Repertoire an akzeptablen Begründungen bereit, das einerseits an traditionelle Codes anschliesst, diese anderseits aber auch um das 'aufgeklärte Eigeninteresse' erweitert (17). Wichtiger noch sind die Bemühungen um die gesellschaftliche Aufwertung von Freiwilligenarbeit wie Sichtbarmachung in Statistiken und Forderungen nach indirekter monetärer Honorierung durch Steuerabzüge oder Sozialbonus. Diese Aufwertungsstrategien sind insofern ein Kollektivprodukt als sie auf die Mitarbeit der Freiwilligen angewiesen sind, die ihre Einsatzstunden festhalten müssen, damit Benevol und andere Organisationen deren Wert dokumentieren und daraus politische Forderungen ableiten können. Nur ein Teil der Freiwilligen trägt aber seinen Anteil zur Produktion des Kollektivgutes 'Anerkennung' bei. Zum einen weil diese Form der Anerkennung für viele irrelevant ist, zum anderen weil Benevol als Organisation die Identifikation mit bzw. die Partizipation an einer Gruppe von Freiwilligen erschwert. Informationen, Entscheidungen und Kontaktgelegenheiten laufen alle zentralistisch über die Stellenleiterin, die für die Freiwilligen, aber nicht mit den Freiwilligen operiert (18).

Für die interviewten Mitarbeiterinnen den Mütterzentrums ist die Kooperation im Rahmen eines selbstbestimmten Projekts, das den spezifischen Bedürfnissen der Mütter dienen soll, der zentrale Aspekt ihres Engagements. Wie bei Benevol sind soziale Anerkennung bzw. gesellschaftliche Aufwertung wichtige kollektive Güter; dazu kommen Orientierungswissen und insbesondere die mütterfreundlichen Arbeitsplätze. Die knappen bezahlten Arbeitsplätze stellen eine «comon pool resource» (Ostrom 1990) dar, die so organisiert werden muss, dass die Mitglieder längerfristig davon profitieren, ohne die Ressource zu 'übernutzen'(19). Durch die Verbindung eines konkreten individuellen Nutzens (Arbeitsplatz etc.) mit kollektiven Zielen (Aufwertung von Müttern) ist das Modell Mütterzentrum eine unmittelbare, wenn auch partielle Lösung für individuelle Mütter und fördert gleichzeitig die Identifikation und Solidarisierung mit einer 'imaginierten Gemeinschaft' (Calhoun 1991) der Mütter. Die Organisationsstrukturen fördern Kooperation und Vergemeinschaftung. Die Eintrittsschwellen sind sehr niedrig: als Mitgliedschaftsbedingung gilt einzig Mutterschaft. Gearbeitet wird in konstanten kleinen Teams, die durch Bereichssitzungen an das Zentrum als ganzes angebunden sind. Schliesslich ermöglichen demokratische Entscheidungsstrukturen eine Gestaltung des Zentrums nach den Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen.

Der geldlose Tausch im Talent kann nur auf der Basis der Existenz einer Gruppe funktionieren, die für Einlösbarkeit der erworbenen Talentgutschriften bürgt. Die Gruppe ist als 'unsichtbarer Dritter' ein Teil des Tausches (Guérin et al. 1998, 66). So gesehen können die Einhaltung des Regelsystems des Tauschkreises und die aktive Aufrechterhaltung des Tausches auch als Kollektivprodukte gelten, denn ohne einen gewissen 'Umsatz' der gesamten Gruppe können die einzelnen Mitglieder die Vorteile des Tauschkreise nicht längerfristig für sich realisieren. Genau diese Mobilisierung von Partizipation gelingt jedoch nur ansatzweise. Zum einen, weil die Mitglieder den geldlosen Tausch nicht existentiell nötig haben, so dass der Zusatzaufwand im Vergleich zum regulären Kauf stark ins Gewicht fällt. Zum anderen weil das Modell individualistisch strukturiert ist. Talent ist als lockeres Netz mit offenen Grenzen konzipiert, das sowohl den Regionalgruppen wie den einzelnen Mitgliedern sehr weitgehende Gestaltungsfreiheiten lässt, handkehrum aber über praktisch keine Kontroll- oder Sanktionsmöglichkeiten verfügt. Der Tauschkreis bietet Kontaktchancen auf individueller Ebene, aber je nach Regionalgruppe kaum regelmässige Anlässe, bei denen sich die Mitglieder als Gruppe begegnen könnten. Er stellt im wesentlichen eine Gelegenheitsstruktur für bilaterale Beziehungen dar und bietet insgesamt eher eine individualistische als kollektive Weltveränderungsstrategie, indem die Mitglieder untereinander je individuell den 'gerechten' Tausch praktizieren und so im Kleinen etwas verändern, aber keine kollektive Politik verfolgen.

 

4.4. Vergemeinschaftung

Fasst man, wie oben eingeführt, Vergemeinschaftung als graduellen Begriff, so zeigt sich, dass niemand unter den Befragten völlig ohne persönliches soziales Netz lebt. Im Durchschnitt werden 14.6 Beziehungen angegeben. Die Talent-Mitglieder haben insgesamt die grössten sozialen Netze (17.2 Alteri); die Benevol-Freiwilligen die kleinsten (10.0) und die Mütterzentrums-Frauen liegen dazwischen (16.9). Die Unterschiede sind zwar signifikant, lassen sich aber vor allem auf Differenzen bezüglich Alter und Erwerbsbeteiligung zurückführen (20).
Eine Mehrheit der Befragten ist ausser in der Untersuchungsgruppe in weiteren Assoziationen aktiv dabei (61 Prozent engagieren sich in mindestens einer weiteren Vereinigung) oder sind zumindest Passivmitglied (59% sind in mindestens einer weiteren Vereinigung Mitglied), und in diesen Gruppierungen entstehen ungefähr gleichviele Beziehungen wie in den Untersuchungsgruppen.

Tabelle 3: quantitative Bedeutung der gruppeninternen Beziehungen

 

Benevol* Mütterzentrum Talent

durchschnittliche
Netzgrösse

10.0 16.9 17.2

durchschnittliche
Grösse gruppen-
interner Netze

1.8 4.1 2.7

Anteil Mitglieder ohne
gruppeninterne
Beziehungen

52.9% 0% 6.5%

durchschnittlicher
Anteil der Gruppen-
mitglieder im persön-
lichen Netz

25.0% 34.1% 24.1%
N = 34 N = 27 N = 36

* Bei Benevol sind 'gruppeninterne' Kontakte solche, die sich im Rahmen einer durch die Stelle vermittelten Freiwilligenarbeit ergeben; Beziehungen zu anderen Benevol-Freiwilligen kommen nur selten vor.

Quelle: eigene Erhebung

Betrachtet man die Zusammensetzung der persönlichen Netze der Befragten, so sind die anderen Gruppenmitglieder darin rein quantitativ von untergeordneter Bedeutung (vgl. Tab. 3). Je nach Gruppe werden rund zwei bis vier andere Mitglieder zum eigenen Netz gezählt bzw. pflegt man zu 1 bis 9.5% aller Gruppenmitglieder persönliche Kontakte(21). Die Unterschiede in der Grösse der gruppeninternen Netze sind signifikant &endash; das Mütterzentrum ist stärker 'vergemeinschaftend' als die beiden anderen Modelle, was sich auch bei einer Betrachtung der Beziehungsgehalte zeigt. Im allgemeinen haben die Gruppenmitglieder eine eher geringe Bedeutung im Vergleich zu den anderen genannten Alteri. Das zeigt sich z.B. daran, dass man mit ihnen nur selten über persönliche Probleme spricht oder informelle Hilfe austauscht, und selbst über das für die Gruppe zentrale Thema eher mit Freunden und Bekannten diskutiert als mit Gruppenmitgliedern. Nur 23% der Alteri aus der Gruppe werden als emotional nahestehend eingestuft (versus 51% der anderen Alteri); diejenigen, mit denen man über die Gruppe hinaus Kontakte pflegt, etwas öfter (37%). Nur 15% der Beziehungen unter Mitgliedern sind 'stark'(22). Bezüglich Beziehungsgehalten zeigen sich Unterschiede zwischen den Gruppen (vgl. Tab. 4), die allerdings wegen der kleinen Fallzahlen statistisch nicht signifikant sind (mit Ausnahme der Freizeitkontakte mit p<.05).

Tabelle 4: Anteil Gruppenmitglieder im persönlichen Netz

Beziehungsgehalt Benevol
% Mitglieder*
Mütterzentrum
% Mitglieder
Talent
% Mitglieder
Diskussion Gruppenthema 30.0 30.2 27.3
informelle Unterstützung 1.9 10.8 6.7
Freizeitkontakte 1.9 16.3 6.6
Besprechung von Problemen 3.7 10.1 6.2
N = 332 Alteri N = 343 Alteri N = 415 Alteri

* Kontakte durch von Benevol vermittelte freiwillige Einsätze, vgl. Tab. 3
Lesebeispiel: Bei den befragten Mütterzentrums-Frauen sind 30.2% der Alteri, mit denen sie über Mutterschaft diskutieren, ebenfalls Mitglied im Mütterzentrum.

Quelle: eigene Erhebung, N = 1090 Alteri

Bezüglich Orientierungsfunktion sind die Unterschiede klein: Gruppenmitglieder machen in allen drei Gruppen knapp 30% der Diskussionspartner aus. Im Mütterzentrum entstehen aber häufiger informelle Unterstützungsbeziehungen und Freizeitkontakte zwischen den Mitgliedern; diese werden auch öfter um Rat gebeten hinsichtlich persönlicher Probleme oder Entscheidungen. Im Tauschkreis bestehen neben dem quasi-monetären Talenttausch nur wenig Hilfsbeziehungen ohne jede Verrechnung, und auch für Freizeit und emotionale Unterstützung haben die Gruppenmitglieder wenig Bedeutung. Benevol selbst kann nicht als Gruppe gelten, und die in diesem Rahmen vermittelte Freiwilligenarbeit trägt offensichtlich wenig zur sozialen Integration der Freiwilligen bei.

 

4.5. Solidarisches Handeln

In meinem Projekt kann zwischen gruppeninternem und &endash;externem solidarischem Handeln (zugunsten der Untersuchungsgruppe oder zugunsten anderer Nutzniessenden) sowie zwischen formellem und informellem Engagement unterschieden werden.

Tabelle 5: solidarisches Handeln

Benevol Mütterzentrum Talent
% % %

Anzahl öffentliche Engagements

nur in Untersuchungsgruppe 32 50 39
1 Vereinigung zusätzlich 53 28 31
>= 2 Vereinigungen zusätzlich 15 22 30

Aufwand für unbezahlte
Freiwilligenarbeit total

keine Freiwilligenarbeit -- 60 37
1 - 10 Std. monatlich 21 31 37
11 - 20 Std. monatlich 47 9 12
> 20 Std. monatlich 32 -- 14

sporadische freiwillige
Einsätze im Vorjahr

keine 45 53 64
einmal 39 22 18
mehrmals 16 25 18

Geldspenden

nie 6 26 18
gelegentlich 32 22 36
regelmässig 61 52 46

informelle Hilfen*

Kinderhüten 15 87 22
Hausarbeit 32 31 31
Pflege 9 6 6

* nur regelmässige Hilfe, d.h. mindestens 1 oder mehrmals im Monat

Die Benevol-Mitglieder setzen im Durchschnitt 18 Stunden monatlich für Einsätze ein, die durch die Stelle vermittelt wurden, bzw. 22 Stunden für Freiwilligenarbeit insgesamt. Ihr Engagement entspricht damit umfangmässig demjenigen von 'traditionellen' Freiwilligen im Sozialbereich (Nadai 1996), ist aber höher als im schweizerischen Durchschnitt (14 Std., vgl. Bühlmann/Schmid 1999). Vereinzelt leisten Mitglieder auch Freiwilligenarbeit für die Stelle selbst (z.B. administrative Aufgaben), setzen sich also in diesem Sinn für die 'Gruppe' ein. Informelle Hilfen werden eher selten erbracht. Das solidarische Handeln der Benevol-Mitglieder findet v.a. in formellem Rahmen statt und drückt sich durch viele 'Spenden' von Arbeitszeit und Geld aus.

Zwei Drittel der Mütterzentrums-Mitglieder arbeiten maximal einen halben Tag pro Woche im Zentrum, nur 16% mehr als einen Tag pro Woche. Dreiviertel leisten zusätzlich unbezahlte Überstunden, und 41% haben im Zentrum auch schon selber Kurse angeboten. Für 71% ist die Mitarbeit im Zentrum das erste öffentliche Engagement, für die Hälfte ist es auch das einzige. Die Mitglieder konzentrieren ihr formelles Engagement tendenziell auf die eigene Gruppe und praktizieren ausserhalb vor allem informelle Netzwerkhilfe unter Frauen &endash; in erster Linie in Bezug auf Kinderbetreuung.

Aktive Teilnahme bei Talent drückt sich primär im Tauschen aus, und das praktizieren die Talent-Mitglieder mehrheitlich nur selten. 36% tauschen seltener als 'ein paarmal im Jahr'; nur ein Viertel tauscht mindestens einmal monatlich oder häufiger; 8% haben noch nie etwas angeboten und 19% noch nie etwas bezogen, obwohl 89% der Befragten schon mindestens ein Jahr Mitglied des Tauschkreises sind. Ein Drittel engagiert sich zusätzlich für die Organisation des Tauschrings und setzt dafür im Durchschnitt 9 Stunden pro Monat ein. Diese organisatorisch aktiven Mitglieder tauschen aber nicht häufiger als die anderen &endash; Tausch und Mitarbeit sind voneinander unabhängige Dimensionen der Teilnahme. Die Talent-Mitglieder zerfallen in eine grössere Gruppe, die insgesamt wenig solidarisches Handeln praktiziert und eine kleine Gruppe 'altgedienter' Aktivisten, die sich in verschiedenen Kontexten seit längerem intensiv engagieren.

Signifikante Unterschiede zwischen den drei Gruppen zeigen sich nur beim Aufwand für regelmässige Freiwilligenarbeit und beim Umfang informeller Hilfe. Benevol-Mitglieder wenden &endash; nicht erstaunlich &endash; am meisten Zeit für regelmässige Gratisarbeit auf und diejenigen von Talent mehr als die Frauen im Mütterzentrum. Benevol-Mitglieder sind signifikant weniger oft in informelle Unterstützungsbeziehungen eingebunden als diejenigen der anderen beiden Gruppen, was sich darauf zurückführen lässt, dass sie häufiger allein leben. Informelle Hilfe und formelle Gratisarbeit sind voneinander unabhängig: Freiwilligtätige leisten nicht häufiger auch noch informelle Unterstützung (vgl. auch Wilson/Musick 1997).

Ein Zusammenhang zwischen Vergemeinschaftung und solidarischem Handeln kann mit den in diesem Projekt generierten quantitativen Daten nicht nachgewiesen werden. Weder sind Personen mit insgesamt grossen persönlichen Netzen aktiver als solche mit kleineren Netzen, noch sind diejenigen mit stärkerer Einbindung in die Untersuchungsgruppe engagierter als diejenigen mit kleineren gruppeninternen Netzen. Schliesslich lässt sich auch kein eindeutiger Unterschied im solidarischen Handeln zwischen den drei Gruppen &endash; unabhängig von der sozialen Integration individueller Mitglieder &endash; konstatieren. Dieser Negativbefund hat sowohl methodische wie inhaltliche Gründe. Methodisch gesehen ist erstens die Stichprobe auf der Ego-Ebene zu klein, um statistisch signifikante Unterschiede zu finden; zweitens wäre für einige der angesprochenen Fragen eine vierte Vergleichsgruppe vonnöten, nämlich Personen ohne jedes öffentliches Engagement. Inhaltlich ist es ausserordentlich schwierig, gruppenübergreifend ein sinnvolles 'Einheitsmass' für Solidarität zu finden, da die drei Organisationen grundverschieden ausgerichtet sind, was in der Logik der qualitativen Sozialforschung eine sinnvolle Kontrastierung darstellt, den quantitativen Vergleich aber erschwert. Die Daten (insbesondere die qualitativen) lassen jedoch folgende Vermutungen zu:

(1) Eine Organisationsform, in deren Rahmen es zu einer vergleichsweise 'starken' Gemeinschaftsbildung kommt, begünstigt eher eine gruppenbezogene Solidarität und eine «kommunitäre Erscheinungsform von Sozialkapital» (Offe 1999, 115), die sich auf die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft bezieht. Das Mütterzentrum ist dafür ein Beispiel, indem die Mitglieder sich, wie gezeigt, vor allem füreinander bzw. für 'ihresgleichen' engagieren. Diese Ausrichtung auf die eigene Gruppe ergibt sich bei diesem Modell auch aus der hohen Relevanz der hier bereitgestellten Kollektivprodukte, insbesondere der Arbeitsplätze, die in dieser Form ausserhalb der Gruppe nicht angeboten werden und deren Erreichbarkeit für das einzelne Mitglied an die Zugehörigkeit zur Kategorie 'Mutter' gebunden ist. Die kategoriale Zugehörigkeit als Basis der Gruppe bleibt dadurch für die Mitglieder sozial signifikant. Die 'Gleichartigkeit' der Mitglieder wird ihnen im übrigen durch die starke Präsenz der Kinder im Zentrum permanent vor Augen geführt: die Mitglieder sind als Mütter hier, sind als solche mit bestimmten Problemen konfrontiert und gehen diese durch Solidarität mit anderen Müttern an.

(2) Stark individualisierte Organisationsformen wie die Modelle Benevol und Talent sind wenig geeignet, gruppeninterne Solidarität zu generieren &endash; in beiden Vereinigungen beteiligen sich nur wenige Mitglieder an der Produktion der jeweiligen Kollektivgüter, d.h. es gelingt nicht

(3) Die Bereitschaft zu solidarischem Handeln und die Stabilität von öffentlichem Engagement werden stärker durch die individuelle Lebenssituation bestimmt als durch Organisationen und ihre Anreize. Drei Faktoren sind besonders hervorzuheben: tradierte Werte, Zeitsouveränität und Existenzsicherung.

Folgt man Helmut Anheier's These, dass «wenig darauf hin(deutet), dass Ehrenamtlichkeit ausserhalb weltanschaulich-fundierter und wertegeleiteter Handlungseinstellungen weiter verbreitet anzutreffen und zu erschliessen sein wird» (Anheier 1999, 162), und beobachtet man gleichzeitig, dass die neuen Solidarmodelle öffentliches Engagement tendenziell zum Ausdruck eines individuellen Interesses an Selbstverwirklichung umcodieren (vgl. Nadai 1999d), lässt sich vermuten, dass sie gewissermassen von traditionalen Solidaritätsbeständen 'zehren', die sie nicht selbst generieren können. Für diese Vermutung spricht der Befund, dass bei der Mehrheit der Befragten (73%) mindestens ein Mitglied der Herkunftsfamilie ebenfalls ein öffentliches Engagement praktiziert(e), bei 31% sogar mehr als zwei Angehörige der Herkunftsfamilie. Auf die Wichtigkeit einer Familientradition bzw. sozialisatorischer Einflüsse verweisen auch amerikanische Untersuchungen (Hodgkinson 1995, Janoski/Wilson 1995).

Wo es um einigermassen zeitintensives Engagement geht, müssen sich auch innovative Solidargruppen primär auf diejenigen stützen, die nicht in die Erwerbsarbeit (bzw. in einen starren 'Normalarbeitstag') eingespannt, aber dennoch durch familiäre oder andere Transfereinkommen materiell abgesichert sind. So dominieren bei den Untersuchungsgruppen mit regelmässigem und relativ umfangreichem Engagement (Benevol, Mütterzentrum) die nichterwerbstätigen Mitglieder, während die vorwiegend erwerbstätigen Talentteilnehmer sich, wie gezeigt, wenig engagieren. Für Nichterwerbstätige kann freiwilliges Engagement ein Mittel zur Teilhabe an der Öffentlichkeit, zur Einbindung in gesellschaftliche Kooperationsbeziehungen, zur Zeitstrukturierung und Gewinnung sozialer Anerkennung sein (vgl. Nadai 1996, Kap. 6).

 

Kontakt

Dr. Eva Nadai, Institut für Soziologie der Universität Bern
email:eva.nadai-at-fhso.ch.


 


 

letztmals geändert am 7.3.2000 / Christoph Müller

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